Die Erhöhung der Fahrpreise für Busse war der Tropfen, der das Fass der Empörung zum Überlaufen brachte: Querbeet durch ganz Brasilien hat es in den letzten zwei Wochen riesige Proteste mit bis zu einer Million Menschen gegeben. Und sie hörten auch nicht auf, als die Politiker in aller Eile die Preiserhöhung wieder zurücknahmen.
Denn längst hatten sich die Proteste der hunderttausenden Arbeiter und Angestellten, Schüler und Studenten, Straßenhändler und Lehrer, auf all die anderen dringenden sozialen Probleme ausgeweitet: die steigenden Preise, die Arbeitsbedingungen und der katastrophale Mangel in Krankenhäusern und Schulen, während korrupte Politiker Milliarden verpulvern.
Seit Jahren bekommen sie zu hören, wie toll Brasilien sich entwickeln würde und dass der Wirtschaftsaufschwung ihnen allen ein modernes Leben in Wohlstand bringen werde, wenn sie sich nur ein wenig gedulden. In Wahrheit aber erleben sie, wie die Ungerechtigkeiten immer größer werden:
72% der Arbeiter verdienen weniger als 500€ im Monat, viele davon nur die 240€ Mindestlohn. Jeden Monat aber steigen die Preise, für Lebensmittel und eben auch für die Busse. Von den mickrigen 240 Euro Lohn müssen die Arbeiter alleine 80 € im Durchschnitt für die vollgestopften Busse ausgeben. Millionen laufen täglich die weite Strecke zu Fuß, weil sie wählen müssen: eine Fahrkarte kaufen – oder Lebensmittel.
Die Krankenhäuser sind zwar kostenlos, aber es gibt kaum welche, und wenn man es überhaupt zu einem schafft, weiß man nicht, ob einem geholfen wird, so groß ist der Mangel an Ärzten und Medikamenten. In den Schulen ist das alltägliche Chaos des Mangels nicht viel besser.
Viele sind angesichts dessen fassungslos, was für riesige Summen die Regierung gleichzeitig für die Fußball-Weltmeisterschaft (2014) und die Olympischen Spiele (2016) ausgibt. 15 Milliarden sind es allein für die WM. Umso offensichtlicher und unerträglicher wird bei diesem Milliardenprojekt auch das Ausmaß der Korruption.
WM und Olympische Spiele haben außerdem die Immobilienspekulationen und damit die Mieten in die Höhe getrieben. Und nicht nur die explodierenden Mieten verjagen die ärmere arbeitende Bevölkerung aus den Städten: In der Nähe der Stadien werden die Armenviertel (Favelas) einfach geräumt und von Bulldozern platt gewalzt. 170.000 Menschen wurden bereits zwangsvertrieben – noch weiter weg von der Stadt, mit noch weiteren Wegen zu ihrer Arbeit.
Die übrigen Slums vor allen in Sao Paolo sollen mit massiven Polizei-einsätzen „befriedet“ werden. Denn bis zur WM, die in erster Linie ein riesen Geschäft von geschätzten 50 Milliarden Dollar für die Unternehmen ist, wollte die Regierung nicht nur Bettelei und sichtbare Armut, sondern auch jeden Ausbruch von Unzufriedenheit verhindern. Doch das ist ihnen gründlich misslungen.
Nach zwei Wochen sind die Massendemonstrationen deutlich zurückgegangen. Doch noch immer gibt es in verschiedenen Teilen des Landes Proteste, und für den 11. Juli haben die Gewerkschaften zu einem großen Streiktag aufgerufen. Es ist also noch offen, wie und ob die Proteste weitergehen.
Schon heute jedoch haben die Proteste nicht nur die Erhöhung der Fahrpreise verhindert. Sie haben die letzten Jahre der Ruhe durchbrochen, in denen vielen solche großen Proteste gar nicht mehr möglich und denkbar schienen. Viele, gerade Jüngere, stellen sich zum ersten Mal die Frage, was und wie sich etwas dauerhaft ändern kann. Und allein das ist ein Pfand für die Zukunft.