Das rote Tuch – Nr. 98

  • NRW: Eine neue Landesregierung, und sofort Angriffe gegen uns Arbeiter

    CDU und FDP haben in den letzten Wochen angekündigt, was sie als neue Landesregierung in NRW alles vorhaben. Eins ist dabei schnell deutlich geworden: Über diese Regierung können sich nur die Unternehmer freuen.

    CDU und FDP hatten im Wahlkampf versprochen, für weniger Staus und bessere Straßen zu sorgen. Und wie wollen sie das nun erreichen? Indem sie mehr Bauarbeiter einstellen? Nein. Sie wollen auf allen öffentlichen Baustellen eine verpflichtende 6-Tage-Woche einführen. Die Bauarbeiter, die schon hart genug malochen müssen, sollen also auch noch samstags arbeiten müssen.

    Den großen Einzelhandelskonzernen wollen CDU und FDP erlauben, an 8 statt bislang an 4 Sonntagen zu öffnen. Was nichts anderes bedeutet, als dass sie den Verkäuferinnen auch noch doppelt so viele Sonntage zerstören – den einzigen freien Tag, an dem auch ihre Familie und Freunde meist frei haben.

    Die neue Landesregierung will außerdem im Bundesrat ein Gesetz einbringen, das den gesetzlichen 8-Stunden-Tag abschaffen soll, ebenso dass man höchstens 10 Stunden am Tag arbeiten darf und zwischen zwei Arbeitstagen 11 Stunden frei haben muss.
    Die Bosse sollen uns bis zu 60 Stunden die Woche ausbeuten und dabei frei und flexibel entscheiden dürfen, uns drei Tage hintereinander 12 Stunden schuften zu lassen oder uns an einem Tag auf Spätschicht bis 22 Uhr arbeiten und am nächsten Morgen um 6 Uhr auf Frühschicht kommen zu lassen. Kommen sie damit durch, wäre dies ein heftiger Schritt zurück für alle Arbeitenden!

    Ein weiteres Geschenk ist für die Gastronomie, Supermärkte und Lebensmittelbetriebe geplant. Gerade erst war entschieden worden, zukünftig die Ergebnisse der amtlichen Hygienekontrollen im Internet zu veröffentlichen. CDU und FDP aber wollen selbst diese winzige Kontrolle sofort wieder abschaffen.
    Dass Verbraucher und Beschäftigte auch nur irgendein Recht haben, zu erfahren, was in den Betrieben passiert – ob bei der Hygiene, bei den Arbeitsbedingungen, beim Geld – das ist für die Bosse unerträglich. Und so sorgt die Regierung dafür, dass die Unternehmer auch weiterhin die Hygiene missachten können – ohne dass die Kunden dies auch nur erfahren dürfen.

    In den Schulen will die Regierung übrigens ein neues Unterrichtsfach flächendeckend einführen: Wirtschaft. Wieso? Wollen sie uns etwa beibringen, wie wir mit unserer Arbeit die Profite der ganzen Konzerne und Banken schaffen? Nein, wo denken wir hin. Sie wollen – so die FDP wörtlich – den Schülern eine positivere Haltung zu Unternehmern und ihrer Mentalität vermitteln!

    Da haben sie schon alle Medien, das Fernsehen, Politiker, eine ganze Maschinerie, die ständig den Kapitalismus lobt und uns erzählt, wie wichtig die Rolle der Unternehmer ist. Doch offensichtlich sind sie nicht sehr überzeugend. Vielleicht, weil die Unternehmer uns täglich das Gegenteil beweisen?
    Jetzt brauchen sie also noch ein extra Schulfach, um diese Wirtschaftsordnung anzupreisen. Und ganz zufällig werden dafür die Geschichts-Stunden gekürzt, in denen die Schüler sehen könnten, was der Kapitalismus schon alles angerichtet hat.

    Apropos Schulen: Monatelang wurde diskutiert, ob die Schulzeit am Gymnasium 8 oder wieder 9 Jahre dauern sollte. Viele Eltern und Schüler wünschen sich 9 Jahre, in der Hoffnung, so mehr lernen zu können, einen vielseitigeren Unterricht und vor allem mehr Zeit zum Lernen zu haben. Und jetzt führen sie die 9 Schuljahre tatsächlich wieder ein – aber so, dass von den erhofften Verbesserungen nichts übrig bleibt.
    Denn im Gegenzug sollen ein Teil der Ganztags-Angebote wieder abgeschafft werden: Gerade kleine Übungsgruppen, in denen die Schüler mehr Zeit zum Lernen hatten, aber auch AGs wie Technik, Astronomie oder Sprachen, Sportangebote – all das wird den Schülern wieder weggenommen.
    Außerdem wurden bei der Verkürzung der Schulzeit auf 8 Jahre 2.000 Lehrerstellen eingespart. Die müsste die Landesregierung jetzt mindestens zusätzlich einstellen. Doch das haben CDU und FDP wohl nicht vor. Ein zusätzliches Schuljahr ohne zusätzliche Lehrer aber bedeutet, es werden noch mehr Lehrer fehlen! Und nicht nur an den Gymnasien. Denn der Lehrermangel wird sich auf alle Schulen verteilen, auch auf die Haupt- Real- und Gesamtschulen.

    Das Ende vom Lied ist, dass es an allen Schulen schlechter wird. Weil sie bei ihren Maßnahmen das Wichtigste nie machen: nämlich mehr Personal einzustellen. Im Gegenteil.
    Und das gilt überall – außer bei der Polizei. Ob in Kitas, Schulen, Krankenhäusern, Nahverkehr, überall will die neue Regierung den Sparkurs weiterführen, den auch die SPD-Regierungen vor ihr geführt haben: ein Sparkurs, der immer mehr feste Arbeitsplätze im Öffentlichen Dienst vernichtet und alle öffentlichen Dienste so immer weiter verschlechtert.

    Nur in einem Punkt ist die neue Regierung tatsächlich anders als die SPD-Regierung vor ihr. Sie tut nicht einmal so, als würde sie sich für die Probleme der Arbeitenden oder für soziale Gerechtigkeit einsetzen.
    Bei ihr ist von Anfang an offensichtlich, dass wir Arbeitenden uns auf Angriffe einstellen müssen, also darauf, uns und unsere Interessen selber zu verteidigen. Denn die Regierung lässt keinen Zweifel daran, dass ihre Sorgen der herrschenden Klasse gelten und sie an uns Arbeiter nur dann denkt, wenn es darum geht, uns noch mehr auszubeuten.

  • Ausbeutung ist International

    Zu Anfang des Jahres hat die polnische Regierung den Mindestlohn erhöht, auf 13 Zloty (3 Euro) pro Stunde.

    Die Unternehmer haben gejammert: 3 Euro Stundenlohn, das würde sie ruinieren. Seitdem entwickeln sie einen kreativen Weg nach dem anderen, um die 3 Euro Mindestlohn nicht zu bezahlen.
    So müssen Putzfrauen nun zum Teil ihren Besen von der Putzfirma „mieten“ und das Putzmittel von ihrem Lohn kaufen. Wachmännern im Sicherheitsdienst wird Lohn abgezogen, wenn sie nach einer Zwölfstunden-Schicht ein verknittertes Hemd haben oder die Mütze mit Firmenlogo nicht tragen.

    Das Ende vom Lied ist, dass viele Arbeiter genauso wenig Lohn verdienen wie vorher auch. Das kommt einem irgendwie bekannt vor! Ja, ob in Polen oder Deutschland: Wenn es darum geht, die Arbeiter um ihren Lohn zu betrügen, sind alle Bosse gleich.

  • Frankreich: Eine neue Partei… damit alles beim Alten bleibt

    Wie sich im 1. Wahlgang der französischen Parlamentswahlen angedeutet hat, wird die neue Partei von Präsident Macron höchstwahrscheinlich die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament ergattern. Medien und Politiker erzählen uns, dies zeige, wie sehr die französische Bevölkerung hinter ihrem neuen Präsidenten stehe.

    In Wahrheit hat Macron vor allem gesiegt, weil die beiden großen Parteien – die Konservativen und mehr noch die Sozialdemokraten – regelrecht abgestürzt sind. Über die Hälfte der Bevölkerung ist außerdem gar nicht wählen gegangen. In den Arbeitervierteln, wo kaum einer Illusionen in Macron hat, war die Wahlbeteiligung noch niedriger.
    Nur dem undemokratischen Wahlsystem in Frankreich und der niedrigen Wahlbeteiligung ist es geschuldet, dass Macron mit den Stimmen von gerade mal 15,4% der Wahlberechtigten wohl um die 400 der rund 550 der Sitze im Parlament bekommt.

    Macron hat mit seinem Wahlsieg die kapitalistische Klasse aus einer politischen Krise gerettet. Bislang hatten sich immer die beiden großen Parteien an der Regierung abgewechselt. Dieser regelmäßige Wechsel verschleierte lange, dass eigentlich alles gleich blieb. Beide Parteien machten Politik für die eigentlichen Machthaber: die Kapitalisten. Doch mittlerweile haben sich beide Parteien so sehr abgenutzt, dass das übliche parlamentarische Spiel nicht mehr funktionierte.
    Macron ist es gelungen, der kapitalistischen Klasse eine neue, verjüngte Mannschaft zur Verfügung zu stellen. Eine neue Partei, die das Gefühl vermittelt, alles ändere sich… damit in Wahrheit alles beim Alten bleiben kann.

    Und Macrons erste Handlung besteht eben darin, mit seiner Mannschaft aus Managern, Anwälten und recycelten Politikern der alten Parteien die Angriffe auf die Arbeiter fortzusetzen, die die letzte Regierung begonnen hat.
    Bereits in den nächsten Monaten will er ohne Abstimmung im Parlament per Dekret durchsetzen, dass Betriebe über Betriebsvereinbarungen Arbeitsverträge einführen können, in denen es quasi gar keinen Kündigungsschutz mehr gibt und die zum Beispiel längere Befristung und längere Arbeitszeiten ermöglichen, als das Arbeitsgesetz eigentlich erlaubt. Und das soll erst der Anfang sein!

    Während sich an der Regierung die Feinde der Arbeiter die Klinke in die Hand geben, können die Arbeitenden ihre Meinung zu den Angriffen und vor allem ihren Widerstand aber auf anderem Weg zum Ausdruck bringen: durch Kämpfe in den Betrieben und auf der Straße.
    Um diese notwendigen Kämpfe gegen die Regierung politisch vorzubereiten, sind unsere Genossen von {Lutte Ouvrière} bei den Wahlen angetreten.

  • „Geboren in Duisburg, abgeschoben nach Nepal“

    1000 Schüler, Eltern und Lehrer haben am 12. Juni in Duisburg für die Rückkehr ihrer Mitschülerin Bivsi Rana demonstriert. Wenige Tage vorher war die 15jährige von der Polizei aus ihrer Klasse am Duisburger Steinbart-Gymnasium geholt und noch am selben Abend mit ihrer Familie ins Flugzeug nach Nepal gesetzt worden.
    Die Familie lebt seit 20 Jahren in Deutschland, Bivsi selber ist hier geboren. Jetzt hat man sie in ihre angebliche „Heimat“ geschickt, die sie noch nie gesehen hat. Empört, was die Behörden ihr antun, kämpfen die Schüler, Eltern und Lehrer dafür, dass Bivsi zurückkommen kann. Schon gab es eine Protestaktion, eine Online-Petition und nun die Demonstration. Und sie wollen weitermachen. „Wir sind eine Sportschule, wir haben einen langen Atem“, sagt einer. „Wir halten durch, bis Bivsi und ihre Familie wieder bei uns sind.“
    Bivsi ist kein Einzelfall. Seit Monaten verschärft die Regierung die Abschiebungen. Sie hat sogar hundert Flüchtlinge in das Inferno von Afghanistan zurückgeschickt. Und selbst syrischen Eltern verbietet sie, ihre Kinder zu sich zu holen. Die Schüler und Lehrer in Duisburg geben auf diese unmenschliche Politik die beste Antwort.

  • NRW: Die Studenten aus den ärmeren Ländern sollen bezahlen

    Eine der empörendsten Entscheidungen der neuen Landesregierung ist, Studiengebühren „nur für Ausländer“ einzuführen – nachdem dies bereits die grün-schwarze Landesregierung in Baden-Württemberg gemacht hat. Wer nicht aus der EU kommt, soll hier bald 1.500 Euro pro Halbjahr zahlen. Was sich viele der Betroffenen gar nicht oder nur mit hohen Schulden leisten können.

    Dieselben Politiker finden es völlig normal, Ärzte, Krankenschwestern oder Informatiker von weit ärmeren Staaten wie Indien, Russland oder Thailand ausbilden zu lassen und sie dann nach Deutschland abzuwerben. Aber wenn einige von ihnen hier studieren möchten, sollen sie bezahlen?

    Doch um das Geld geht es der CDU gar nicht so sehr. Sie will vor allem dem AfD-nahen Teil ihrer Wähler gefallen, gerade vor der Bundestagswahl. Die Leidtragenden sind die jungen Leute aus den ärmeren Ländern der Welt. Und wenn gerade die Studenten aus einfachen Familien der ärmeren Länder nicht mehr kommen können, wird auch das Leben an den Universitäten für alle menschlich ärmer.

  • Betriebsrenten: Verspekuliert – und das Geld ist weg

    Die Bundesregierung will dafür sorgen, dass möglichst alle Firmen „Betriebsrenten“ einführen, in die wir Arbeiter nochmal zusätzlich einzahlen sollen. Angeblich würden dadurch unsere Renten sicherer. Von wegen!

    Anders als bei der gesetzlichen Rente, wo die Beiträge, die die Arbeiter heute einzahlen, sofort an die heutigen Rentner ausgezahlt werden, funktionieren die neuen Betriebsrenten wie private Versicherungen. Man zahlt Geld ein, die Versicherung spekuliert jahrelang mit diesem Geld und verdient daran. Und später zahlt sie uns die Beträge mit Zinsen als Rente aus. Doch es gibt keine Garantie, wie viel Rente man nachher bekommt. Im schlimmsten Fall bekommt man fast gar nichts. Denn die Versicherungen können sich auch verspekulieren – und dann ist das Geld weg.
    In den USA müssen dies gerade wieder zehntausende städtische Arbeitende erleben. Ihre Betriebsrente war in Spekulationsfonds investiert worden, die nun kurz vor dem Bankrott stehen. Die ersten Städte haben daher bereits angefangen, den Rentnern ihre Betriebsrente um die Hälfte zu kürzen!

    Die deutsche Regierung weiß das. Sie weiß, dass die Rente für viele Arbeiter damit noch unsicherer wird. Doch was zählt schon die Rente von ein paar Millionen Arbeitern, wenn man den Unternehmern und der Versicherungsindustrie ein großes Geschenk machen kann?

  • „Die Renten sind sicher“… niedrig!

    Nachdem selbst die SPD die Vorwürfe nicht mehr überhören konnte, dass Martin Schulz eigentlich nichts Konkretes für die Zeit nach seiner Wahl ankündigt, versucht sie jetzt mit dem Thema Rente Wahlkampf zu machen. Doch was verspricht Schulz? Er will „dafür sorgen“, dass alles genauso bleibt wie es ist: Dass die Renten genauso niedrig bleiben und das Rentenalter mit 67 genauso hoch bleibt wie jetzt auch. Was für tolle Wahlversprechen!
    Ändern will er einzig, dass für diejenigen, die mindestens 35 Jahre gearbeitet haben und trotzdem weniger Rente rausbekommen als die 800 Euro Grundsicherung, eine „Solidarrente“ eingeführt wird – als Anerkennung für ihre jahrzehntelange harte Arbeit. Worin besteht die? Darin, dass die Betroffenen zukünftig ganze… 80 Euro mehr Rente im Monat bekommen sollen! 80 Euro sind also für Schulz, das „Arbeiterkind aus Würselen“ ein angemessener Betrag als „Würdigung für ein Leben harter Arbeit“. Da haben wir andere Vorstellungen.

  • Das Recht, sonntags nicht zu arbeiten

    Kaufhof, Karstadt und andere Einzelhandelskonzerne haben eine Kampagne gestartet: Sie wollen durchsetzen, dass ihre Geschäfte jeden Sonntag öffnen dürfen. In NRW ist ihnen die neue Landesregierung auch sofort einen ersten Schritt entgegengekommen. Sie will jetzt die Zahl der verkaufsoffenen Sonntage pro Geschäft von 4 auf 8 erhöhen.

    Es ist noch nicht so lange her, da hatten die Läden samstags um 12 Uhr zu. Mittlerweile müssen die Verkäuferinnen schon bis 22 Uhr arbeiten. Und jetzt wollen ihnen die Konzernchefs auch noch den Sonntag nehmen – den einzigen Tag, an dem viele gemeinsam mit Familie und Freundeskreis frei haben.

    Der Karstadt-Chef sagt dazu nur, jede Verkäuferin habe doch „das Recht, selber zu entscheiden, ob sie sonntags arbeiten will oder nicht“. Er versucht uns ernsthaft einzureden, man bräuchte keine Gesetze, die die Arbeitszeit begrenzen: Jeder könne „selbstständig“ entscheiden, ob er bestimmte Arbeitszeiten wolle oder nicht. Als ob irgendeine Verkäuferin bei Lidl oder Karstadt die Freiheit hätte, Nein zu sagen, wenn der Chef fragt, ob sie sonntags kommt! Zumindest nicht, wenn sie ihren Job behalten will.

    Eine einzelne Verkäuferin ist dem Unternehmer ausgeliefert, genau wie jeder andere Arbeiter. Einem einzelnen Arbeiter kann der Unternehmer diktieren, wo er arbeitet, für wie viel – und eben auch, ob er am Wochenende arbeiten muss. Denn der Unternehmer hat die Macht über seine Existenz: Er kann entscheiden, ihn einzustellen oder zu entlassen.

    Die Stärke von uns Arbeitern hingegen ist unsere Zahl – und dass ohne unsere Arbeit nichts läuft. Wenn wir uns mit vielen zusammentun, haben wir die Macht, den Unternehmern Angst zu machen und unsere Interessen durchzusetzen.
    Indem sich die Arbeitenden in der Vergangenheit immer wieder in großen Streiks und Demonstrationen zusammengeschlossen haben, haben sie eine Reihe Einschränkungen der Ausbeutung erkämpft, darunter nicht zuletzt den 8-Stunden-Tag und auch den arbeitsfreien Samstag. Und das ist auch der einzige Weg, wenn wir verhindern wollen, dass die Bosse heute jede dieser Schranken wieder einreißen.

Kein Artikel in dieser Ausgabe.

  • Vor 100 Jahren – Die Russische Revolution (von Februar bis Juni)

    Vor hundert Jahren, im Juni 1917, findet in Petrograd (heute St. Petersburg) der erste gesamtrussische Kongress der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte statt. Nach Jahrhunderten der Herrschaft eines allmächtigen Zaren diskutieren nun Arbeiter und kleine Bauern – gewählt von 20 Millionen der Ihrigen – wie die Zukunft ihres Landes aussehen soll!
    Schon lange ist das Regime des Zaren verhasst und die Unzufriedenheit über die bittere Armut, die politische Unterdrückung und die Rückständigkeit des Landes groß. Der Erste Weltkrieg, in dem Millionen Männer für die Machtinteressen des verhassten Regimes niedergemetzelt werden, während die Familien zuhause hungern müssen, bringt das Fass dann zum Überlaufen.

    Am internationalen Frauentag im Februar 1917 beginnen die Arbeiterinnen der Textilindustrie in Petrograd spontan zu streiken und fordern Brot. Sie ziehen zu anderen Fabriken, der Streik weitet sich aus, und bereits am übernächsten Tag streikt die gesamte Stadt. Es geht längst nicht mehr nur um Brot. Die Streikenden fordern „Nieder mit der Zarenherrschaft“ und „Nieder mit dem Krieg“. Der Zar schickt die Armee. Doch die Soldaten – meist Bauern, die ebenfalls vom Krieg die Nase voll haben – weigern sich zu schießen. Der Zar ist machtlos. Die Revolution hat begonnen.

    Nun geht alles ganz schnell. Die Arbeiter entwaffnen Offiziere und Polizei. Und sofort organisieren sie sich in Räten (auf Russisch Sowjet), die sie in dem Revolutionsversuch von 1905 erfunden und erprobt hatten: In allen Fabriken und aufständischen Regimentern wählen die Arbeiter und Soldaten ihre Vertreter, die sich nun täglich treffen, um die Revolution zu leiten. Die Räte besetzen das Kommunikationssystem (Post, Telegrafen, Bahnhöfe, Druckereien). Sie besetzen Reichsbank, Schatzkammer und Notenbank. Und sie kümmern sich sofort um die Versorgung der Bevölkerung. Mit allen Fragen und Problemen wenden sich die Arbeiter, Soldaten und Bauern an die Sowjets, die für sie die einzigen legitimen Vertreter der Revolution sind: die neue Macht.

    Trotzdem geben die Sowjets nach kurzem ihre Regierungsmacht ab. Sie übergeben sie freiwillig an eine, auf die Schnelle gebildete Regierung, die aus Vertretern der bürgerlichen Parteien und sogar aus Monarchisten und Adeligen besteht. Diese Regierung sollte von nun an über alle wichtigen Fragen entscheiden!

    Wieso taten die Sowjets das? Die beiden sozialistischen Parteien, die an der Spitze der Sowjets standen (die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre) waren der Überzeugung, dass in diesem rückständigen Land die kleine russische Arbeiterklasse nach der jahrzehntelangen Unterdrückung nicht die Fähigkeit hätte, die Gesellschaft zu leiten und zu organisieren. Sie waren der Überzeugung, dass nur das Bürgertum hierzu in der Lage sei. Und die Mehrheit der Arbeiter und Soldaten, die in dieser völlig neuen Lage erst einmal verschiedene politische Vorschläge ausprobieren mussten, vertrauten ihnen zunächst.

    Schnell jedoch zeigt sich, dass die bürgerliche Regierung im Gegenteil nicht einmal fähig ist, auch nur die drängendsten Probleme zu lösen. Unter ihr geht der Krieg weiter – unter fadenscheinigen Vorwänden. Denn die kapitalistische Klasse will ihre Pläne nicht aufgeben, durch den Krieg neue Herrschaftsgebiete und Profitquellen zu erobern.
    Unter ihr bekommen die Millionen landlosen Bauern weiterhin kein Land. Die bürgerliche Regierung scheut sich, das geheiligte Eigentum der Großgrundbesitzer anzutasten. Außerdem verkauft ein Teil der Adeligen aus Angst vor der Revolution seine Ländereien freiwillig an reiche Bauern und Kapitalisten. Die Regierung, die die Interessen eben dieser Kapitalisten vertritt, hat kein Interesse daran, die Entwicklung zu stoppen und das Land stattdessen umsonst unter den Millionen armen Bauern aufzuteilen.

    Und die Versorgung mit Brot, Kohle und Kleidung organisiert die Regierung auch nicht. Denn dafür müsste sie die Kapitalisten zwingen, ihre Waren zu bezahlbaren Preisen zu verkaufen. Stattdessen schützt sie die Kapitalisten dabei, wie sie aus dem Mangel und Elend noch Profit schlagen, indem sie die Preise immer weiter in die Höhe schrauben.

    Vier Monate nach dem Sturz des Zaren ist die Lage für die arbeitende Bevölkerung also noch immer katastrophal. Die Bolschewiki, die Partei von Lenin und Trotzki, sind die einzige, die den Grund hierfür erklären. Bereits im März 1917 schreibt Lenin: Die bürgerliche „Regierung kann (…) dem Volk weder Frieden, noch Brot, noch Freiheit geben.“ Um dies zu bekommen, können sich die Arbeiter „nur auf die eigenen Kräfte, auf die eigene Organisation, auf den eigenen Zusammenschluss, auf die eigene Bewaffnung“ verlassen. Die Arbeiter und Bauern müssen selber die vollständige Macht übernehmen. „Alle Macht den Sowjets“!

    Am Anfang ist die kleine bolschewistische Partei mit diesen Ansichten in der absoluten Minderheit. Doch mit jedem Tag erfahren mehr Arbeiter, dass die Bolschewiki recht haben – als erstes in der Hauptstadt Petrograd, dem Herz der Revolution und Sitz der bürgerlichen Regierung. Als im Juni hier der erste gesamtrussische Sowjetkongress zusammenkommt, demonstrieren bereits hunderttausende Petrograder Arbeiter unter der Losung „Alle Macht den Sowjets“. Und im Oktober 1917, nach vier weiteren Monaten reicher Erfahrungen und Erkenntnisse, übernehmen die Arbeiter, Soldaten und Bauern in ganz Russland endgültig selber die Macht.