Leitartikel
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Damit die Arbeitenden nicht um den Erfolg ihrer Kämpfe betrogen werden, brauchen sie ihre eigene, unabhängige Politik!
Wie vor zwei Jahren hat die ägyptische Armee also letztlich den Diktator abgesetzt, nachdem Millionen Menschen Tag für Tag gegen ihn auf die Straße gegangen waren. Erneut hat die ägyptische Bevölkerung gezeigt, dass eine entschlossene Bevölkerung einen Diktator verjagen kann. Und nichts anderes als ein Diktator war Mursi, auch wenn er sich und seine diktatorischen Vollmachten in Wahlen hat absegnen lassen. Wie sein Vorgänger hat er diejenigen verfolgt, gefoltert und teilweise ermordet, die seine Politik kritisierten: junge Leute, die gegen seine rückschrittliche und frauenfeindliche Verfassung demonstrierten; Arbeiter, die unabhängige Gewerkschaften gründen wollten…
„Gerechtigkeit, Arbeit und Brot“: Für diese Forderungen hatte die ägyptische Bevölkerung vor 2 Jahren den Diktator Mubarak gestürzt. Doch keine dieser Forderungen hat die neue Regierung Mursi auch nur versucht umzusetzen. Sie hat die einfachsten Bedürfnisse der Bevölkerung mit Füßen getreten und war in jeder Hinsicht die Fortsetzung der alten Regierung.
Nichts hat sich unter Mursi für die Millionen Frauen und Männer verbessert, die von weniger als 2 Dollar am Tag ihr Leben fristen müssen. Nichts für die Arbeiter, die täglich endlose Stunden arbeiten müssen, um ihre Familien zu ernähren. Nichts für die Jugend, die keine Arbeit findet. Das wollte der große Teil der Bevölkerung nicht mehr hinnehmen.Doch auch wenn die Armee Mursi „im Namen des Volkes“ abgesetzt und verhaftet hat, so tut sie dies nicht, um die Forderungen der Bevölkerung zu unterstützen, im Gegenteil. Sie hat die Proteste nicht nur als Gelegenheit genutzt, um ihre politischen Rivalen zu schwächen. Vor allem will die Armee, die seit 60 Jahren im Hintergrund die politische Macht in Ägypten in den Händen hält, nicht die Kontrolle über die Lage verlieren.
Mursi hat bei der Bevölkerung jedes Vertrauen verloren. Indem die Armee ihn nun selber stürzt, will sie vermeiden, dass sich der Vertrauensverlust auch auf die Armee ausweitet.
Und sie will damit genau wie vor 2 Jahren dafür sorgen, dass ansonsten Alles beim Alten bleibt. Dass außer dem Gesicht an der Spitze nichts geändert wird und alles – die Diktatur, die Ausbeutung – weitergehen kann.
Dass die Massen in ihren Protesten gar nicht erst auf den Gedanken kommen, dass Armee und Polizei nicht auf ihrer Seite stehen und sie den gesamten unterdrückerischen Staatsapparat bekämpfen müssen. Oder dass sie sich gar gegen die wahren Herrscher der Gesellschaft wenden, gegen die Reichen, die Besitzer des Geldes und der Betriebe, die Hauptverantwortlichen für Elend, Ausbeutung und Unterdrückung.Niemals aber wird es „Gerechtigkeit, Arbeit und Brot“ geben, wenn die Arbeiterklasse nicht genau diesen Schritt geht. Wenn sie den Kapitalisten, den Besitzern der Ölfirmen, Fabriken, Häfen, Nahrungsmittelkonzernen und Dienstleistern das Recht lässt, zu entlassen und die Arbeiter 12 Stunden am Tag auszubeuten. Wenn sie ihnen das Recht lässt, Löhne zu bezahlen, von denen eine Familie nicht einmal das Nötigste, nicht einmal Brot, Miete und Strom bezahlen kann.
Um auch nur diese grundlegenden Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung durchzusetzen, muss die arbeitende Bevölkerung die Kapitalisten angreifen und ihr Recht auf grenzenlose Ausbeutung und Profit in Frage stellen.Solange dies nicht geschieht, wird nur eine Regierung der Ausbeuter durch eine neue ersetzt werden. Und genau das droht heute der Bevölkerung in Ägypten. Wie auch immer die neue Regierung aussehen wird, die aus den Rivalitäten zwischen Islamisten, liberaler Opposition und Armee hervorgehen wird, sie wird in jedem Fall weiter Politik im Interesse der Reichen und Mächtigen und damit gegen die arbeitende Bevölkerung machen.
Sie wird in jedem Fall weitere Misere und Diktatur für die Bevölkerung bedeuten. Und im schlimmsten Fall muss diese längere blutige Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen rivalisierenden Parteien erleiden.Um zu verhindern, dass die Arbeitenden mutig kämpfen und ihre Haut riskieren, doch am Ende so bitter um ihren Sieg betrogen werden, ist es lebensnotwendig, dass sich die Arbeitenden wieder selber als politische Kraft organisieren. Sie müssen in ihrem eigenen Namen, für ihre eigenen Interessen gegen die gesamte herrschende Klasse kämpfen und letztlich auch dazu bereit sein, die Leitung der Gesellschaft selber zu übernehmen. Und man kann nur hoffen, dass die Lehren der bisherigen Kämpfe der arbeitenden Bevölkerung Ägyptens helfen, erste wichtige Schritte in diese Richtung zu gehen.
Internationales
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Brasilien: Massenproteste gegen die soziale Lage und das politische System
Die Erhöhung der Fahrpreise für Busse war der Tropfen, der das Fass der Empörung zum Überlaufen brachte: Querbeet durch ganz Brasilien hat es in den letzten zwei Wochen riesige Proteste mit bis zu einer Million Menschen gegeben. Und sie hörten auch nicht auf, als die Politiker in aller Eile die Preiserhöhung wieder zurücknahmen.
Denn längst hatten sich die Proteste der hunderttausenden Arbeiter und Angestellten, Schüler und Studenten, Straßenhändler und Lehrer, auf all die anderen dringenden sozialen Probleme ausgeweitet: die steigenden Preise, die Arbeitsbedingungen und der katastrophale Mangel in Krankenhäusern und Schulen, während korrupte Politiker Milliarden verpulvern.Seit Jahren bekommen sie zu hören, wie toll Brasilien sich entwickeln würde und dass der Wirtschaftsaufschwung ihnen allen ein modernes Leben in Wohlstand bringen werde, wenn sie sich nur ein wenig gedulden. In Wahrheit aber erleben sie, wie die Ungerechtigkeiten immer größer werden:
72% der Arbeiter verdienen weniger als 500€ im Monat, viele davon nur die 240€ Mindestlohn. Jeden Monat aber steigen die Preise, für Lebensmittel und eben auch für die Busse. Von den mickrigen 240 Euro Lohn müssen die Arbeiter alleine 80 € im Durchschnitt für die vollgestopften Busse ausgeben. Millionen laufen täglich die weite Strecke zu Fuß, weil sie wählen müssen: eine Fahrkarte kaufen – oder Lebensmittel.
Die Krankenhäuser sind zwar kostenlos, aber es gibt kaum welche, und wenn man es überhaupt zu einem schafft, weiß man nicht, ob einem geholfen wird, so groß ist der Mangel an Ärzten und Medikamenten. In den Schulen ist das alltägliche Chaos des Mangels nicht viel besser.
Viele sind angesichts dessen fassungslos, was für riesige Summen die Regierung gleichzeitig für die Fußball-Weltmeisterschaft (2014) und die Olympischen Spiele (2016) ausgibt. 15 Milliarden sind es allein für die WM. Umso offensichtlicher und unerträglicher wird bei diesem Milliardenprojekt auch das Ausmaß der Korruption.WM und Olympische Spiele haben außerdem die Immobilienspekulationen und damit die Mieten in die Höhe getrieben. Und nicht nur die explodierenden Mieten verjagen die ärmere arbeitende Bevölkerung aus den Städten: In der Nähe der Stadien werden die Armenviertel (Favelas) einfach geräumt und von Bulldozern platt gewalzt. 170.000 Menschen wurden bereits zwangsvertrieben – noch weiter weg von der Stadt, mit noch weiteren Wegen zu ihrer Arbeit.
Die übrigen Slums vor allen in Sao Paolo sollen mit massiven Polizei-einsätzen „befriedet“ werden. Denn bis zur WM, die in erster Linie ein riesen Geschäft von geschätzten 50 Milliarden Dollar für die Unternehmen ist, wollte die Regierung nicht nur Bettelei und sichtbare Armut, sondern auch jeden Ausbruch von Unzufriedenheit verhindern. Doch das ist ihnen gründlich misslungen.Nach zwei Wochen sind die Massendemonstrationen deutlich zurückgegangen. Doch noch immer gibt es in verschiedenen Teilen des Landes Proteste, und für den 11. Juli haben die Gewerkschaften zu einem großen Streiktag aufgerufen. Es ist also noch offen, wie und ob die Proteste weitergehen.
Schon heute jedoch haben die Proteste nicht nur die Erhöhung der Fahrpreise verhindert. Sie haben die letzten Jahre der Ruhe durchbrochen, in denen vielen solche großen Proteste gar nicht mehr möglich und denkbar schienen. Viele, gerade Jüngere, stellen sich zum ersten Mal die Frage, was und wie sich etwas dauerhaft ändern kann. Und allein das ist ein Pfand für die Zukunft.