Nordirland: Der Brexit entzündet wieder das Pulverfass

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Es folgt ein übersetzter Artikel unserer französischen Genoss*innen von Lutte Ouvrière in ihrer gleichnamigen Zeitung vom 14. April 2021.

Am Osterwochenende und in der ganzen Woche darauf kam es in den protestantischen Vierteln Nordirlands jede Nacht zu Unruhen – vor allem seitens junger „Unionisten“, die für den Verbleib Nordirlands im britischen Königreich sind. Mit Molotow-Cocktails und angezündeten Fahrzeugen lieferten sie sich Auseinandersetzungen mit der Polizei. Teilweise griffen sie auch die Bewohner der benachbarten katholischen Viertel an, die ihrerseits Anhänger einer Vereinigung von Nordirland mit der Republik Irland sind.

Aufgrund des Brexits muss zwischen der EU und Großbritannien eine Zoll-Schranke eingeführt werden. Und das Brexit-Abkommen sieht vor, dass diese Zollschranke nicht zwischen der Republik Irland und Nordirland eingeführt wird, um die Insel nicht wieder zu zerreißen, sondern zwischen Nordirland und Großbritannien. Dagegen jedoch wehren sich die Unionisten lautstark, allen voran die derzeitige nordirische Premierministerin Arlene Foster. Denn für sie gibt es keinen schlimmeren Alptraum als eine mögliche Vereinigung mit der Republik Irland.

Seit dem 1. Januar haben Foster und ihre Anhänger daher Öl ins Feuer gegossen… bis es in den protestantischen Arbeitervierteln explodiert ist – dort, wo die Wirtschaftskrise die Jugend mit voller Wucht getroffen hat und es nur einen Funken für die Explosion brauchte. Die ehemaligen protestantischen Terroristen, die über ihre halb politischen, halb mafiösen Strukturen sehr großen Einfluss auf diese Jugendlichen haben, haben sicher auch eine Rolle gespielt.
Was in Nordirland gerade passiert, ist eine Folge der kurzsichtigen politischen Machtspiele des britischen Premierministers Johnson und seines Vorgängers Cameron, der sich verkalkuliert hatte, als er 2016 ein Referendum über den Austritt aus der EU organisierte. Seit der Brexit am Ende einer von fremdenfeindlicher Hetze geprägten Kampagne gesiegt hat, zeigen sich die schädlichen Nebenwirkungen auf das politische und soziale Leben des Landes inklusive Nordirlands.

Über diese jüngsten Ursachen hinaus sind die Spannungen auch die Frucht der Spaltungspolitik des britischen Imperialismus. Um den Unabhängigkeitskrieg des irischen Volkes für Großbritannien so kostengünstig wie möglich zu beenden, spaltete er 1922 die Insel nach das Motto „Teile und herrsche“ und behielt Nordirland im Königreich. Durch diese Teilung entstand ein Nordirland, in dem der Konflikt zwischen protestantischen Unionisten und Katholiken jedes Klassenbewusstsein überlagert, zum größten Nutzen der Bourgeoisie.

Heute reißt der Brexit die Wunden des latenten Bürgerkrieges wieder auf, der zwischen 1972 und 1998 wütete und mehr als 3.000 Opfer forderte: in Irland wie in Großbritannien, in den katholischen wie in den protestantischen Familien. Doch auch vor 23 Jahren geschlossene Friedensabkommen hat Nordirland nicht vor der Krise des Kapitalismus in Sicherheit gebracht. Es bleibt die ärmste Provinz Großbritanniens.
Für die Jugendlichen, die an den jüngsten Unruhen teilgenommen haben, war dies sicher auch ein Ventil für ihre Wut über den Mangel an Perspektiven in der heutigen Gesellschaft. Doch die Wut gegen den katholischen Bevölkerungsteil zu richten, deren Jugend genau in derselben sozialen Ausweglosigkeit steckt wie sie selbst, ist eine katastrophale Sackgasse.

Angesichts der Krise kann nur der Kampf der Arbeiterklasse gegen die Zwänge des Kapitalismus eine Perspektive eröffnen. Sich in nationalistischen oder religiösen Gemeinschaften abzuschotten, kann einen von diesem Kampf nur entfernen, der der Kampf aller Ausgebeuteten ist.