Seit Wochen spricht die US-Regierung immer wieder davon, dass ein baldiger Waffenstillstand in Gaza „in greifbarer Nähe“ wäre. Doch der Terror gegen die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen geht unvermindert weiter. Israelische Soldaten berichten, wie ihre Vorgesetzten ihnen befehlen, systematisch die palästinensische Zivilbevölkerung zu beschießen und Zivilisten in verminte Häuser zu schicken. Die Bevölkerung wird terrorisiert durch Bomben und Gewehrsalven, durch regelmäßige Vertreibungen, ebenso wie durch fehlendes Trinkwasser und Nahrung. Nach 25 Jahren könnte zum ersten Mal eine Epidemie von Kinderlähmung drohen, weil die Säuglinge durch den Krieg keine Impfungen und kein sauberes Wasser bekommen.
Auch im Westjordanland wird die Lage immer unerträglicher. Nachdem extremistische Siedler, unterstützt von der Armee, den Krieg in Gaza seit Monaten nutzen, um auch hier palästinensische Bewohner zu terrorisieren, hat die israelische Armee am 28. August einen Großeinsatz im Westjordanland begonnen… natürlich wie immer unter dem Vorwand, palästinensische Terroristen zu bekämpfen.
Auf allen Ebenen ergreift die israelische Regierung die Flucht nach vorne und zündelt an allen Enden: Sie intensiviert die Angriffe im Libanon; ganz zu schweigen von den wiederholten Provokationen gegenüber dem Iran. In dem Versuch, die Bevölkerung trotz deren zunehmenden Unzufriedenheit mit Netanjahu und seiner Kriegspolitik in Gaza hinter sich zu vereinen, spielt die israelische Regierung mit dem Feuer – während im Hintergrund weiter verhandelt wird.
Was steckt hinter der Politik die israelische Regierung – und welche Absichten haben die imperialistischen Großmächte? Was hat die palästinensische Bevölkerung von den „Verhandlungen“ zu erwarten, an denen sie selber nicht beteiligt ist? Wie ist die Opposition gegen die Regierung in Israel selber einzuschätzen? Und welche Perspektiven gibt es ansonsten für die Palästinenser und letztlich alle Bevölkerungen der Region?
Zu dieser Frage veröffentlichen wir die gekürzte Übersetzung eines Artikels aus der Zeitschrift Lutte de Classe (Nr.240, Mai/Juni 2024), der zweimonatlichen Zeitschrift unserer französischen Genossen von Lutte Ouvrière.
Gaza ist in ein Trümmerfeld verwandelt geworden. Mehr als die Hälfte der Häuser wurde zerstört. Kein einziges Krankenhaus funktioniert mehr. Die meisten der 2,5 Millionen Einwohner sind vor den vorrückenden israelischen Truppen geflohen, deren Bodenoffensive am 27. Oktober begann. (…)
Nach der Kälte des Winters leiden die vertriebenen Familien unter der steigenden Hitze und sind ohne fließendes Wasser von der Ausbreitung von Krankheiten bedroht. Indem sie ganz bewusst die humanitären Hilfslieferungen blockieren, schaffen die israelischen Behörden absichtlich eine Hungerkrise.
Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu verkündet zwar immer wieder, dass es sein Ziel sei, die Hamas auszurotten. Er weiß jedoch genau, dass seine Armee dieses Ziel unmöglich erreichen kann. Das wahre Ziel der Militäroperation besteht darin, alle Palästinenser zu terrorisieren, um sie zumindest für einige Jahre davon abzuhalten, sich gegen die Unterdrückung zu erheben, unter der sie seit Jahrzehnten leiden.
Im US-Präsidentschaftswahlkampf muss Biden auf die Gefühle Rücksicht nehmen, die diese Ereignisse in einem Teil der amerikanischen Öffentlichkeit hervorrufen, insbesondere in der demokratischen Wählerschaft – inklusive den jüdischen Kreisen, die traditionell eigentlich eine pro-israelische Einstellung haben. Dies zeigt sich insbesondere an den Universitäten, wo die Mobilisierung in den letzten Wochen ein größeres Ausmaß angenommen hat, insbesondere mit der Errichtung von Camps auf dem Campus.
Der Präsident der größten imperialistischen Macht ist auch besorgt angesichts der Gefahr, dass sich der Konflikt aufgrund der Haltung Netanjahus auf den gesamten Nahen Osten ausweiten könnte. Dies hat Biden dazu veranlasst, seine Rhetorik gegenüber seinem israelischen Verbündeten zu ändern und immer nachdrücklicher einen Waffenstillstand zu fordern.
Am 8. Mai drohte er Israel damit, im Falle einer großen militärischen Offensive in Rafah bestimmte Waffenlieferungen einzustellen. Es wird jedoch keineswegs in Betracht gezogen, die Milliardenhilfe, die Israel jedes Jahr erhält, einzustellen – ebenso wenig andere Hilfen, wie die 13 Milliarden, die Ende April im Kongress verabschiedet wurden. Biden hat nicht die Absicht, einen Verbündeten zu schwächen, der bis heute die tragende Säule der Verteidigung der imperialistischen Ordnung im Nahen Osten ist.
Netanjahus Kalkül im Umgang mit dem Iran
Trotz des – rein verbalen – Drucks von Biden hat Netanjahu seine Politik nicht geändert. Im Gegenteil, er hat die Reden der israelischen extremen Rechten vollständig übernommen und wiederholt bei jeder Gelegenheit, dass er den Krieg ohne Pause „bis zum totalen Sieg“ führen werde (…).
Weit davon entfernt, seine Haltung zu mäßigen, hat Netanjahu im Gegenteil immer häufiger gezielte Provokationen lanciert, die eine kriegerische Eskalation anheizen könnten. Nachdem die israelische Armee den Südlibanon bombardiert und dabei Gebäude und Hisbollah-Kämpfer ins Visier genommen hatte, nachdem sie zahlreiche Luftangriffe gegen Syrien geflogen hat, ging sie so weit, das iranische Konsulat im syrischen Damaskus vollständig zu zerstören und dabei elf Menschen zu töten, darunter zwei führende Mitglieder des Korps der Revolutionsgarden. Damit griff sie den Iran an, obwohl sich die Führung in Teheran seit Beginn des Konflikts zurückgehalten hatte. Tatsächlich versucht Netanjahu, den Iran in den Konflikt zu verwickeln, um die USA zu zwingen, ihre Unterstützung für Israel zu bekräftigen.
Angesichts dieser massiven Provokation musste der Iran reagieren, und sei es nur, um seine Glaubwürdigkeit gegenüber seinen Truppen, aber auch gegenüber seinen Verbündeten, der Hisbollah, der Hamas und den Huthi zu wahren (…). Die iranische Führung hatte jedoch keineswegs die Absicht, sich in eine Eskalation hineinziehen zu lassen, bei der sie nur verlieren könnte. Sie inszenierte daher einen begrenzten Gegenschlag und informierte Washington über die Schweizer Botschafterin explizit, dass sie nicht beabsichtige, darüber hinauszugehen. (…)
Das von Netanjahu angestrebte Ziel wurde erreicht: Das westliche Lager verurteilte einstimmig den Iran für seinen Angriff auf Israel und bekräftigte feierlich sein Bündnis mit Israel. (…) Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass Netanjahu die gleiche Art von Provokation wiederholen wird. Und sei es nur in dem Versuch, in der Bevölkerung ein Gefühl der nationalen Einheit („Jetzt müssen wir alle gegen die Bedrohung aus dem Iran zusammenstehen“) hervorzurufen – zu einem Zeitpunkt, da seine Politik in Israel selber immer mehr in Frage gestellt wird. Und um die US-Führung dazu zu zwingen, dass sie ihre Unterstützung für die israelische Regierung bekräftigt, egal was diese macht.
Seit Erscheinen des Artikels hat Netanjahu diese Taktik bereits ein weiteres Mal angewendet. Er hat in der iranischen Hauptstadt Teheran den Auslandschef der Hamas im Iran töten lassen. Diesmal verzichtete der Iran auf jeden Gegenschlag und beschränkte sich auf ein paar verbale Drohung. Doch obwohl es offensichtlich war, dass der Iran die Eskalation unbedingt vermeiden möchte, schickten die USA sofort zwei Flugzeugträger in die Region. Die Führung der USA, Deutschlands und anderer imperialistischer Staaten erklärten unisono, dass sie in einem möglichen Konflikt „zu 100 Prozent“ hinter Israel stehen würden – und der CDU-Verteidigungsexperte Kieswetter überlegte laut, ob man nicht die Bundeswehr zur Unterstützung Israels entsenden solle.
Der US-Imperialismus am Drücker
Nach den Aktivitäten von US-Außenminister Antony Blinken und seinen zahlreichen diplomatischen Reisen in den Nahen Osten zu urteilen, versucht die US-Führung zu verhindern, dass der Gaza-Konflikt zu einer größeren Konfrontation in der Region führt. Ende April sprach Blinken von einem Megadeal, wie er es nannte: Es sollten engere Beziehungen zu den arabischen Staaten in der Region geknüpft werden, insbesondere zu Saudi-Arabien, um sie in ein politisches und militärisches Bündnis gegen den Iran einzubinden.
Dies würde jedoch voraussetzen, dass man zumindest so tut, als würde man die Interessen der Palästinenser berücksichtigen – indem man sich beispielsweise auf die Palästinensische Autonomiebehörde stützt oder ihr sogar den Status eines eigenständigen, vollwertigen Staates verleiht.
Derzeit stoßen diese Perspektiven auf den entschiedenen Widerstand der israelischen Regierung. Diese Verhandlungen, die seit Monaten über die Vermittler Katar und Ägypten geführt werden, zeigen, dass die US-Führung durchaus bereit ist, die Hamas in die politische Nachkriegsordnung mit einzubeziehen. Die islamistische Organisation selbst ist dazu durchaus bereit. Denn was sie in Wirklichkeit anstrebt, ist dasselbe wie das, was alle nationalistischen Organisationen anstreben und auch die PLO vor ihr angestrebt hat: Dass die Großmächte ihr Recht anerkennen, über einen Staatsapparat zu verfügen und ihn im Namen ihrer Bourgeoisie zu leiten. Die Hamas-Führer wussten genau, dass die Massaker vom 7. Oktober an der israelischen Bevölkerung eine schreckliche militärische Vergeltung nach sich ziehen würden. Aber sie wollten den Konflikt um jeden Preis neu entfachen, um sich als unumgängliche Gesprächspartner zu etablieren.
Wir können nicht sagen, was die Manöver der US-Diplomatie letztendlich bewirken werden. Aber sicher ist, dass sie der palästinensischen Bevölkerung weder ein Ende des Konflikts, noch ein Ende der Unterdrückung oder gar eine wirkliche Verbesserung ihrer Lebensbedingungen bringen werden.
Alles deutet darauf hin, dass sich die israelische Armee darauf vorbereitet, eine zumindest teilweise Besatzung des Gazastreifens aufrechtzuerhalten. Israelische Bomber und Pioniertrupps haben den Großteil der Gebäude in der „Sicherheitszone“, die Israel gerade auf einer Breite von etwa einem Kilometer am Rande des Gazastreifens etabliert, dem Erdboden gleichgemacht. Durch diese massiven Zerstörungen wird die Enklave fast eines Sechstels ihrer Fläche und eines großen Teils ihrer landwirtschaftlichen Nutzflächen beraubt. Die israelische Armee hat außerdem Mitte Februar eine von ihr beherrschte Straße, den Netzarim-Korridor, eingerichtet, die den Gaza-Streifen in der Mitte durchschneidet. Sie folgt teilweise dem Verlauf einer alten Straße, die bis zum israelischen Rückzug 2005 den jüdischen Siedlern vorbehalten war. Sie ist sieben Kilometer lang und isoliert Gaza-Stadt im Norden (dessen Bevölkerung von 700.000 vor dem Krieg auf 300.000 heute gesunken ist) vom Rest der Enklave.
Dieser Korridor trifft auf den von den USA an der Küste von Gaza errichteten schwimmenden Hafen, der zwischen Mai und September in Betrieb genommen werden soll und vorgeblich dazu dient, humanitäre Hilfe nach Gaza zu transportieren. In Wirklichkeit jedoch geht es darum, eine Infrastruktur zu schaffen, die von den israelischen Machthabern genutzt werden kann, um Gaza zu kontrollieren und dort dauerhaft Militär zur Unterdrückung der Palästinenser zu stationieren.
Der Gaza-Streifen war bereits vor dem Krieg ein Gefängnis unter freiem Himmel. Der israelische Staat bereitet sich in Absprache mit den USA darauf vor, es in ein echtes Konzentrationslager zu verwandeln – mit durch Korridore, Stacheldraht und Wachtürme abgetrennten Bereichen – in dem seine Armee nach Belieben militärische Operationen durchführen kann.
In Israel: Die Protestbewegung und ihre Grenzen
In Israel selbst wird Netanjahus Politik zunehmend in Frage gestellt. Er hatte den Krieg in Gaza als „existenziell“ für Israel dargestellt und zwei Kriegsziele definiert: die Ausrottung der Hamas und die Befreiung der Geiseln. Keines dieser Ziele wurde erreicht, und der Krieg erscheint vielen Israelis zunehmend vor allem ein Mittel zu sein, mit dem Netanjahu seine eigene politische Existenz sichern will. Denn da er seit November 2019 wegen Korruption und Betrug angeklagt ist, drohen ihm bis zu sechzehn Jahre Haft (…).
Bei seiner Flucht nach vorn stützt sich Netanjahu mehr denn je auf die religiöse und nationalistische extreme Rechte, die für die Schaffung eines Groß-Israels eintritt: Sie will das Westjordanland und den Gazastreifen annektieren und alle Palästinenser aus diesen Gebieten vertreiben. Diese extreme Rechte stellt mehrere Minister in Netanjahus Regierung. Sie versucht die Kriegssituation zu nutzen, um ihren Einfluss auszubauen und den Siedlungsbau im Westjordanland voranzutreiben. Seit dem 7. Oktober sind dort bei Übergriffen von Siedlern und Repressionen der Armee fast 500 Menschen ums Leben gekommen und 5.000 verletzt worden.
Mit seiner unnachgiebigen Haltung und der Weigerung, nach dem Waffenstillstand vom November 2023 einen weiteren Waffenstillstand mit der Hamas zu vereinbaren, hat Netanjahu der extremen Rechten den Rücken gestärkt. Diese Haltung hat dazu geführt, dass ein Teil der Familien der Geiseln mobil machen und fordern, dass die Regierung mit der Hamas über ihre Freilassung verhandelt. Seit mehreren Monaten geht ein Teil derjenigen, die vor dem 7. Oktober gegen Netanjahu und seine geplante Justizreform demonstriert haben, wieder auf die Straße. Jeden Samstag demonstrieren Tausende für vorgezogene Wahlen (diese würden regulär 2026 stattfinden) mit dem Ziel, den Rücktritt der derzeitigen Regierung zu erreichen.
Die wichtigste Figur der Opposition – der ehemalige General Benny Gantz, der sich im Mitte-Rechts-Spektrum positioniert – forderte Wahlen im September. Als Mitglied des nach dem 7. Oktober gebildeten Kriegskabinetts ist er jedoch sehr darauf bedacht, nicht zu verhandlungsfreundlich zu erscheinen, und hat sich für eine Offensive auf Rafah ausgesprochen. Gantz muss seit kurzem mit der Konkurrenz eines anderen ehemaligen Generals, Yair Golan, rechnen, der Vorsitzender der Arbeitspartei werden möchte und sogar so weit geht zu erklären: „Wir müssen unsere Richtung radikal ändern, denn es ist unmöglich, die Hamas zu zerstören.“
Diese Politiker versuchen, aus der Stimmung gegen Netanjahu Kapital zu schlagen. Doch keiner von ihnen stellt eine echte Alternative dar, die die Serie von Kriegen beenden könnte. Sie sind zwar gegen den derzeitigen Premierminister, aber sie stellen weder seine Politik gegenüber den Palästinensern in Frage noch die Politik aller Regierungen, die an der Spitze des israelischen Staates standen, der 1948 gegründet wurde, indem mehr als 700.000 Palästinenser ihres Landes und Eigentums beraubt und ins Exil gezwungen wurden.
Keine Lösung im Rahmen des Imperialismus
Die israelische Bevölkerung jedoch wird nie Frieden und Sicherheit bekommen ohne einen radikalen Bruch mit der Politik, die ihre Führung bisher verfolgt hat. Die Beendigung des Konflikts, der zwischen Israelis und Palästinensern entstanden ist, erfordert notwendigerweise die Anerkennung der nationalen Rechte der Palästinenser. Aber keine „politische Lösung“ unter Führung der imperialistischen Mächte wird gleiche Rechte für die Völker oder ihre friedliche Koexistenz in dieser Region garantieren.
Eben diese imperialistischen Mächte haben die Völker gegeneinander aufgehetzt, insbesondere die Juden gegen die Araber. Um ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten, haben sie ein Interesse daran, dass dieser Konflikt andauert, und heizen ihn daher durch diplomatische Manöver und militärische Unterstützung der einen gegen die andere Seite an.
Der Sturz des Imperialismus ist die einzige emanzipatorische Perspektive für die Völker im Nahen Osten und im Rest der Welt. Die einzige Kraft, die diese Aufgabe erfüllen kann, ist die Arbeiterklasse – unter der Bedingung, dass sie die nationalen Spaltungen überwindet und die Unterdrückten der Region in einem gemeinsamen Kampf vereint, um der Ausbeutung und Plünderung der Region durch den Imperialismus ein Ende zu setzen. Mehr denn je müssen revolutionäre Kommunisten dieses Programm verteidigen. Es ist das einzige, das einen Ausweg aus dem endlosen israelisch-palästinensischen Konflikt bieten kann, der seinerseits letztlich ein Ausdruck des Bankrotts des Kapitalismus ist.