Ägypten: zehn Jahre Militärdiktatur unter al-Sissi

Vor zehn Jahren beendete ein Militärputsch die Krise, die durch den Volksaufstand von 2011 ausgelöst worden war. Doch die Gründe, die zu diesem Aufstand geführt hatten, sind immer noch vorhanden und sogar noch akuter als damals. Die demokratischen Rechte sind unter dem aktuellen Herrscher al-Sisi noch eingeschränkter als zu Zeiten des Diktators Mubaraks. Die sozialen Ungleichheiten haben zugenommen. Die Militärkaste hat ihre Kontrolle über die Wirtschaft erheblich ausgeweitet, während die Arbeiter, die einfache Bevölkerung von den Auswirkungen einer beispiellosen Wirtschaftskrise erdrückt werden. Wir veröffentlichen hierzu die gekürzte Übersetzung eines Artikels aus der Zeitschrift Lutte de Classe (Nr.240, Mai/Juni 2024), der zweimonatlichen Zeitschrift unserer französischen Genossen von Lutte Ouvrière.

Nach den Vereinigten Arabischen Emiraten haben nun auch der Internationale Währungsfonds, die Europäische Union und die Weltbank dem ägyptischen Staat geholfen, der kurz vor dem Bankrott stand. Denn auch wenn das diktatorische Regime von Feldmarschall Abdel Fattah al-Sisi die 111 Millionen Einwohner des Landes bislang erfolgreich unterdrückt und mundtot macht, befürchten alle eine unkontrollierbare soziale Explosion, die die Instabilität in der Region noch weiter verschärfen würde. Und jetzt, wo sich der Krieg in Gaza in die Länge zieht und die Spannungen im Nahen Osten zunehmen, unterstützen sie umso mehr die ägyptische Diktatur, die zu den Regimen gehört, mittels derer die imperialistischen Mächte ihre Herrschaft in der Region ausüben.

Vom Arabischen Frühling zu al-Sisi

Im Februar 2011 ließ der Generalstab der ägyptischen Armee, unter dem Druck der Bevölkerung und in Absprache mit den USA, den seit dreißig Jahren herrschenden Diktator Mubarak fallen. Um die Proteste zu entschärfen, gab der Armee-Chef Tantawi vor, einen „friedlichen demokratischen Übergang“ zu organisieren – und die wichtigsten Kräfte der Opposition, insbesondere die Muslimbruderschaft, unterstützten ihn dabei. Durch ihre Teilnahme an diesem von der Armee inszenierten sogenannten „friedlichen demokratischen Übergang“ kam das hohe Ansehen und die Glaubwürdigkeit, die die Muslimbruderschaft in der ärmeren Bevölkerung besaß, der Armeeführung zugute, die sie in der Vergangenheit immer wieder unterdrückt und verfolgt hatte.
 
Die Muslimbrüder galten aufgrund ihrer Wohltätigkeitsarbeit und ihrer Aktivisten vor Ort als ehrlich und um die Armen bemüht. Doch in Wahrheit verteidigen sie genau wie die anderen islamistischen oder demokratischen politischen Parteien, ob rechts oder links, die bürgerliche Gesellschaftsordnung. Alle diese Parteien betrachteten die ausgebeuteten Klassen als Manövriermasse, die an ihrem Platz bleiben, sprich fügsam und den herrschenden Klassen unterworfen sein soll.
 
In den Monaten darauf kam es zu Unruhen in der Bevölkerung, mit Arbeiterstreiks, Demonstrationen und der Besetzung von Plätzen. Doch zu keinem Zeitpunkt geriet die Situation außer Kontrolle der Generäle, die sich bewusst im Hintergrund hielten.
 
Bei den Präsidentschaftswahlen am 30. Juni 2012 gewann dann Mohamed Morsi, der Kandidat der Muslimbruderschaft, mit 51,7 % der Stimmen die Wahlen. Ein Jahr später sah er sich mit dem Zorn der Volksmassen konfrontiert, die unter seinen Sparmaßnahmen litten und die diktatorischen Tendenzen seiner Herrschaft ablehnten. Die Nationale Rettungsfront, eine Koalition aus Parteien von der Rechten bis zur extremen Linken, beteiligte sich aktiv an dieser Bewegung. Am 30. Juni 2013 wurde Morsi nach Massenprotesten, die seinen Rücktritt forderten, von General Abdel Fattah al-Sisi, seinem stellvertretenden Ministerpräsidenten und Verteidigungsminister, abgesetzt. Die Nationale Rettungsfront buckelte vor der Armee und begrüßte die Absetzung Morsis.
 
Al-Sisi handelte nicht auf eigene Faust, sondern mit der Unterstützung der Vereinigten Staaten sowie seiner Verbündeten in der Region: Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Israel. Denn diese wollten nicht, dass Ägypten von der Muslimbruderschaft regiert wurde.
 
So war es dem Militär zweimal gelungen – nach dem Abgang Mubaraks 2011 und nach der Wahl Morsis 2013 – auf den Wellen der Proteste zu reiten und als scheinbarer Beschützer der Demonstranten und Garant des Wandels aufzutreten.
 
Da es keine Partei gab, die die Interessen der Arbeiterklasse vertrat, war diese trotz ihrer massiven Beteiligung an der Protestbewegung, ihrer Streiks, ihres Mutes und ihrer Kampfbereitschaft nicht in der Lage, eine politische Perspektive für die Gesamtheit der ausgebeuteten Klassen darzustellen. Und so war es am Ende die Armee, die davon profitieren konnte, dass die Bevölkerung zunächst Mubarak und später Morsi davonjagte.
 
Der Sturz Morsis verschaffte al-Sisi eine gewisse Popularität, da er vorgab, auf die Forderungen der Volksbewegung einzugehen und so sein Image als Retter der Nation und als Bollwerk gegen den Islamismus pflegen konnte. Um seiner Macht eine demokratische Legitimität zu verleihen, rief er erneut Präsidentschaftswahlen aus, die er mit großem Abstand gewann. Obwohl al-Sisi nun in Zivilkleidung erschien, regierte weiterhin die Armee das Land.

Demokratische Rechte werden mit Füßen getreten

Die Erleichterung über die Absetzung Morsis war nur von kurzer Dauer. Die Linken und all jene, die al-Sisi unterstützt hatten, weil sie das Militär für das kleinere Übel hielten, wurden enttäuscht. Nachdem die Armee zunächst die Anhänger der Muslimbruderschaft brutal unterdrückt hatte, erließ sie Dekrete und Verordnungen, die dann auch alle anderen Gegner ihrer Macht mundtot machen sollten. Al-Sisi war entschlossen, die politische Stabilität wiederherzustellen, die für die Geschäfte der Bourgeoisie förderlich ist. Er verhängte ein Demonstrationsverbot, ließ linke Oppositionelle und kämpferische Arbeiteraktivisten verfolgen und verhaften. Zehn Jahre nach seinem Amtsantritt sind die demokratischen Rechte, die bereits unter Mubarak stark eingeschränkt waren, noch weiter verstümmelt worden.
 
Schätzungen zufolge sitzen heute fast 60.000 Gefangene aus politischen Gründen in ägyptischen Gefängnissen. Viele von ihnen befinden sich dort, ohne dass sie jemals vor Gericht gestellt wurden. Einige werden manchmal monatelang in Einzelhaft gehalten, andere werden während ihrer Verhöre geschlagen oder ihnen wird die medizinische Versorgung verweigert.
 
Zu den Muslimbrüdern haben sich linke Aktivisten, Journalisten, Intellektuelle, Blogger und Künstler gesellt, von denen jedes Wort und jedes Bild unter die Lupe genommen wird. Wird es als subversiv eingestuft, kann man dafür verhaftet werden. Demonstrationen und Streiks sind illegal. Regimekritische Parteien und Organisationen werden ebenso wie unabhängige Medien zensiert und verboten. Fast alle Presseorgane stehen mittlerweile unter dem Befehl der Machthaber und werden direkt vom Staat, den Geheimdiensten oder einigen reichen, dem Regime nahestehenden Geschäftsleuten kontrolliert.
 
Die Todesstrafe wird immer häufiger angewendet: Im Jahr 2022 verhängten Richter 538 Todesurteile, und bei der Zahl der vollstreckten Todesurteile steht Ägypten weltweit an vierter Stelle. Die Verurteilten werden hauptsächlich durch Erhängen hingerichtet.
Eine bankrotte Wirtschaft, die am Tropf hängt
 
Die Diktatur wird mit umso größerer Härte ausgeübt, da das Regime aufgrund der tiefen Wirtschaftskrise eine soziale Explosion befürchtet. Inflation, Verfall des ägyptischen Pfunds, Mangel an Dollars – Ägypten erlebt eine der schlimmsten Krisen seiner Geschichte. Der Staat benötigt dringend Devisen, um einen Großteil seiner Lebensmittel zu importieren und seine Auslandsschulden in Höhe von fast 165 Milliarden US-Dollar zu begleichen. Allein die Zinszahlungen für die Staatsschulden belaufen sich auf 42 Mrd. US-Dollar pro Jahr, was zwei Drittel der Haushaltseinnahmen ausmacht. Im Januar galt Ägypten als das zweitgefährdetste Land für einen Staatsbankrott, gleich hinter der kriegsgeschüttelten Ukraine. Mangels Dollar zu ihrer Bezahlung blieben Waren im Wert von 5 bis 15 Milliarden Dollar in den Häfen liegen, was die Produktion vieler Unternehmen zum Stillstand brachte.
 
Der Staat muss seinen Gläubigern immer mehr Zinsen zahlen, während die drei wichtigsten Einnahmequellen des Landes – Devisenüberweisungen der Diaspora, Tourismus und Suezkanal –, die bereits unter Corona gelitten haben, aufgrund der Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen zusammengebrochen sind.
 
Die wichtigste Einnahmequelle des Landes ist das Geld, dass Millionen ägyptische Arbeitende, die sich in den Golfstaaten und im Mittelmeerraum niedergelassen haben, in ihre Heimat überweisen. Diese Überweisungen gingen im Jahr 2023 von 30 Milliarden US-Dollar auf 22 Milliarden US-Dollar zurück. Die zweite große Einnahmequelle ist der Tourismus. Doch aufgrund des Kriegs in der Ukraine kommen keine ukrainischen und russischen Touristen mehr, die vorher 40% der ausländischen Touristen ausmachten. Der Krieg führte auch zu einem Anstieg der Weizenpreise, was Ägypten, dem größten Weizenimporteur der Welt, schweren Schaden zufügte.
 
Die dritte Einnahmequelle ist der Suezkanal: Normalerweise spülen die Containerschiffe und anderen Schiffe, die den Suezkanal passieren, insgesamt mehr als 10 Milliarden US-Dollar jährlich in die Kasse. Doch nun führen im Roten Meer die Angriffe der jemenitischen Huthi-Rebellen zur Unterstützung der Palästinenser dazu, dass der Seeverkehr in diesem strategisch wichtigen Gebiet zurückgegangen ist. Die Einnahmen aus dem Suezkanal sind daraufhin um 40 bis 50% eingebrochen. Eine weitere Folge des Krieges im Nahen Osten ist, dass die wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Israel und Ägypten weitgehend abgebrochen sind. Besonders spürbar ist der Rückgang der Gasimporte aus Israel, was zu schädlichen Stromausfällen führt.
 
Um den Bankrott eines Staates zu verhindern, der für die Aufrechterhaltung der herrschenden Ordnung der Großmächte in der Region unverzichtbar ist, haben Ägyptens regionale Verbündete, die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien, sowie die internationalen Finanzinstitutionen umfangreiche Mittel bereitgestellt. Am 6. März gewährte der IWF einen Kredit in Höhe von 8 Milliarden US-Dollar (…). Am 17. März gewährte die Weltbank einen Dreijahreszuschuss in Höhe von 6 Milliarden US-Dollar. Am selben Tag erhielt al-Sisi von der Europäischen Union 7,4 Milliarden Euro, um als Bollwerk gegen die Migrationsströme zu fungieren. Denn Ägypten ist nicht nur ein Auswanderungsland, sondern auch ein Zufluchtsort für geschätzt neun Millionen Migranten, die vor regionalen Kriegen geflohen sind. Vier Millionen Sudanesen, 1,5 Millionen Syrer, eine Million Jemeniten und eine Million Libyer sollen dort Zuflucht gefunden haben.
 
Al-Sisi hat es geschafft, seine Rolle als Hüter der imperialistischen Ordnung bei den internationalen Institutionen zu Geld zu machen.
 
Er konnte auch auf Saudi-Arabien und die Emirate zählen, seine wichtigsten Geldgeber, für die die Stabilität Ägyptens von entscheidender Bedeutung ist. Seit dem Putsch 2013 sollen Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate an die 100 Milliarden US-Dollar in Ägypten investiert haben, und letztere haben gerade angekündigt, dass sie weitere 35 Milliarden US-Dollar investieren wollen.
Dieser Geldsegen hielt einerseits Ägypten über Wasser und ermöglichte den Golfmonarchien gleichzeitig, sich Land, Ferienorte und staatliche Unternehmen unter den Nagel zu reißen. So planen die Emirate, allein 10 Milliarden für die Entwicklung von Ras el-Hikma auszugeben, um diese Stadt an der Mittelmeerküste zu einem Luxusressort, einem Finanzzentrum und einer Freihandelszone mit Hafen und internationalem Flughafen zu machen. Die Emirate werden 65% der Einnahmen erhalten. Saudi-Arabien unternimmt ein ähnliches Projekt im östlichen Sinai (…). Neben den internationalen Finanziers werden auch die ägyptischen Baufirmen von dem Projekt profitieren, vor allem aber die Armee, deren hohe Offiziere eifrige Investoren sind.

Die Armee ist die wirtschaftliche Stütze des Regimes

Die 468.500 Mann starke ägyptische Armee ist eine der stärksten in Afrika und im Nahen Osten. Jedes Jahr erhält sie 1,3 Milliarden US-Dollar von den USA. Ihre leitende Offizierskaste hat sich an der Spitze eines riesigen Wirtschaftsimperiums etabliert. Unter der Herrschaft von al-Sisi ist die Liste der Branchen, bei der die Armee die Finger im Spiel hat, immer länger geworden.
 
Ein Gesetz verbietet die Veröffentlichung des Militärhaushalts. Doch man schätzt, dass der Militärhaushalt 20 bis 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmacht. Unter der Aufsicht des Ministeriums für Nationale Verteidigung und des Ministeriums für Militärproduktion sind rund 60 Großunternehmen in 19 Industriezweigen tätig: Rüstung, Lebensmittel, Bäckerei, Medien, Automobilindustrie, Tabak, Pharmaindustrie, Transport, Düngemittel, Tourismus… Keine Branche ist vor ihr sicher, was die Ägypter zu der Aussage veranlasst: „Die meisten Staaten haben eine Armee, aber in Ägypten hat die Armee einen Staat“. Wie seine Vorgänger hat auch al-Sisi aktive und pensionierte Militärs an die Spitze der großen staatlichen Unternehmen berufen. (…)
 
Die Militärs, die sich die öffentlichen Aufträge unter den Nagel reißen, sind in vielen Bereichen die Auftraggeber. Sehr oft kommen die Privatunternehmen nur als Subunternehmer zum Zug. Die Unternehmen unter Kontrolle der Armee zahlen keine Steuern, Abgaben oder Zölle. Sie zögern nicht, beim Bau von Brücken, Straßen und neuen Städten auf Wehrpflichtige zurückzugreifen, die sie als billige Arbeitskräfte schamlos ausnutzen. Diese Arbeitskräfte werden von der New Capital Company eingesetzt, die unter der Kontrolle der Armee mitten in der Wüste den Bau der neuen Hauptstadt leitet, die Kairo mit seinen 22 Millionen Einwohnern entlasten soll. Sie ist bis heute nicht fertiggestellt und hat bereits mehr als 60 Milliarden US-Dollar gekostet. Diese gigantischen Investitionen haben die Baukonzerne reich gemacht und die Verschuldung des Landes sowie den Einfluss der Armee auf die Wirtschaft weiter erhöht.
 
Die Armee kontrolliert alle Häfen sowie die Mautstellen für die für die Industrie wichtigen Straßen. Sie verfügt nach Belieben über das Staatsland (dem Staat gehören 94% des Bodens), und sie hat alle strategisch wichtigen Gebiete unter ihrer Kontrolle: die Küste, den Sinai und den Suezkanal –Gebiete, in denen der Großteil der Industrie angesiedelt ist. Jeder, der gegen die Sonderrechte der Armee protestiert, wird beschuldigt, ein Muslimbruder, d. h. ein Terrorist, zu sein. Ein Unternehmer der Lebensmittelindustrie, der sich weigerte, sein Unternehmen abzutreten, landete im Gefängnis.
 
Die Armee hält bei weitem nicht alle Verträge ein, die sie unterzeichnet. Mohamed Ali, ein ehemaliger Schauspieler, der sich anschließend als Bau-Unternehmer versuchte, musste dies am eigenen Leib erfahren. Aus Unzufriedenheit darüber, dass er nicht bezahlt wurde, prangerte er 2019 in den sozialen Netzwerken die Methoden der Armee, die Korruption und die Verachtung der hohen Offiziere an. Seine Videos hingen viral und schürten den Zorn der Bevölkerung. Drei Tage lang demonstrierten mehrere Tausend Jugendliche und griffen die Slogans von 2011 auf. In den Straßen von Kairo ertönten die Rufe „al-Sisi hau ab!“. Der Repressionsapparat schlug zu, mehr als 4000 Jugendliche wurden festgenommen. Auch diejenigen, denen die Justiz nichts vorzuwerfen hatte, blieben monatelang in Untersuchungshaft, um ein Exempel zu statuieren und durch Abschreckung ein Wiederaufflammen der Proteste zu verhindern. (…)

Das Regime fürchtet einen neuen Aufstand

Im Präsidentschaftswahlkampf 2023 rechtfertigte al-Sisi seine Politik der Megaprojekte, die das Land ruiniert haben und vielfach kritisiert werden, mit folgenden Worten: „Wenn der Preis für Fortschritt und Wohlstand darin besteht, hungrig und durstig zu sein, dann lasst uns nicht essen und nicht trinken.“ Le Monde berichtete, dass sich als Antwort darauf im März während des Ramadans Dutzende in Alexandria Menschen zu Demonstrationszügen versammelten und Schilder hochhielten, auf denen stand „Wir haben Hunger, Sisi“. Der Fortschritt, den al-Sisi beschwört, kommt nur einer Minderheit zugute, die im Luxus lebt und sich in bewachten Wohnvierteln verbarrikadiert – weit entfernt von der Armut und dem Elend der Unterschicht und der verarmenden Mittelschicht.
 
Kürzung der Subventionen für Energie und lebensnotwendige Güter, steigende Transportpreise, Arbeitslosigkeit: Die Mehrheit der Ägypter befindet sich am Abgrund. 60% der Bevölkerung gelten als arm. Und sie werden nicht von den Milliarden Dollar profitieren, die al-Sisi von den internationalen Geldgebern versprochen wurden. Die werden jedoch die Zinsen hierfür zahlen. Die Presse berichtet von den klaren Worten einer Frau, die sich in einem Lebensmittelgeschäft im Kairoer Stadtteil Dokki nach Zucker erkundigte: „Sie haben es so aussehen lassen, als würden die Dollars auf uns herabregnen. Wie wäre es mit einem Regen aus billigem Zucker?“.
 
Seine Familie mit Essen zu versorgen, ist eine schwierige Aufgabe geworden angesichts der Lebensmittelknappheit sowie einer jährlichen Inflation, die bei 39% liegt, bei Lebensmitteln sogar bei 70%. Die soziale Wut schwelt und entlud sich Ende Februar im Streik der 3.700 Arbeiterinnen der Spinnereien des staatlichen Unternehmens Mahalla el Koubra im Nildelta. Sie wollten nicht hinnehmen, dass die 750.000 Beschäftigten der staatlichen Unternehmen nicht von den Erhöhungen des Mindestlohns profitieren sollten, die den fünf Millionen Staatsbeamten gewährt wurden.
 
Die Streikenden, denen sich mehrere Tausend weitere Beschäftigte des Standorts anschlossen, zögerten nicht, sich über das Demonstrationsverbot hinwegzusetzen. Sie ließen sich auch von über 100 Verhaftungen nicht einschüchtern. Da der Streik auch auf andere Bereiche übergriff, gab al-Sisi nach und kündigte an, dass die 750.000 Beschäftigten der öffentlichen Betriebe genau wie die Beamten eine Erhöhung des Mindestlohns auf 6.000 Ägyptische Pfund (180 Euro) erhalten würden.
 
Al-Sisi gab also bereits nach einigen Tagen Streik nach. Denn er war sich bewusst, dass aus diesem ansonsten eine Revolte hervorgehen könnte, die viel schwerer in den Griff zu bekommen wäre. Die Arbeiterklasse stellt in Ägypten eine Macht dar. Trotz der unterdrückten und gezähmten Gewerkschaften schätzt das Regime das Risiko hoch ein, dass es zu Wutausbrüchen der Arbeitermassen kommen könnte, die vor allem im Nildelta in großen Betrieben und Industriegebieten zusammengeballt arbeiten.
Hinzu kommt, dass die Proteste seit dem Krieg in Gaza einen neuen Weg gefunden haben, um sich Gehör zu verschaffen. Die Palästinenserfrage ist wieder in den Vordergrund gerückt und hat ein politisches Leben wiederbelebt, das das Regime jahrelang zu ersticken versucht hatte. Die Machthaber befürchten, dass die Solidaritätsaktionen mit den Palästinensern zu einem Wiederaufleben der Proteste führen könnten, die sich gegen sie selber wenden.
 
Die einzigen Demonstrationen zur Unterstützung der Palästinenser, die sie am 20. Oktober genehmigt hatten, bestätigten ihre Befürchtungen. Bei dieser Gelegenheit wiederholten die Demonstranten Protestslogans aus dem Jahr 2011 wie „Für Brot, Freiheit und die palästinensische Sache“. Die Sicherheitskräfte gingen sofort dagegen vor und nahmen rund 50 Personen fest. Die Proteste wurden im Keim erstickt, aber da der Krieg im Gazastreifen weitergeht, steht das ägyptische Regime weiterhin unter Druck. Es muss sich mit seinen israelischen und amerikanischen Verbündeten und einer pro-palästinensischen Bevölkerung auseinandersetzen, die immer mehr hinter der Hamas steht.
 
Al-Sisi nutzt die in Kairo stattfindenden Verhandlungen über die Zukunft des Gazastreifens, um als Friedensstifter und Verteidiger der palästinensischen Sache aufzutreten. Er ruft dazu auf, für die Palästinenser Blut, Medikamente und Lebensmittel zu spenden. Gleichzeitig weigert er sich jedoch standhaft, den Grenzübergang in Rafah zu öffnen, einer Stadt an der Grenze zu Ägypten, in der 1,4 Millionen Palästinenser Zuflucht gefunden haben und die eine der ganz wenigen Orte ist, an denen Menschen und materielle Hilfe in den Gazastreifen hinein- und erstere herauskommen können.
 
Al-Sisi macht sich damit zum Komplizen derjenigen, di die Palästinenser im Gazastreifen einsperren. Er rechtfertigt dies mit der Behauptung, er wolle eine neue Nakba (Name für den Exodus der Palästinenser 1948) verhindern und den Palästinensern ermöglichen, in ihrer Heimat zu bleiben. Doch nach sieben Monaten Krieg, mehr als 35.000 Toten, 76.900 Verletzten und der Zerstörung des Gazastreifens haben diejenigen, die überlebt haben, kein Zuhause mehr und oft auch keine Familie… (…)
 
Al-Sisi rechtfertigt seine kriminelle Komplizenschaft mit Israel damit, dass er auf diese Weise den Frieden und die ägyptische Nation verteidigen würde. Doch seine Beteiligung an der Unterdrückung der Palästinenser und generell an der Aufrechterhaltung der imperialistischen Ordnung im Nahen Osten steht im krassen Gegensatz zu den Gefühlen der ägyptischen Bevölkerung. Gepaart mit der Tatsache, dass der Alltag der Bevölkerung immer härter wird, kann dies jederzeit zu einem neuen Wutausbruch der Bevölkerung führen. Es bleibt zu hoffen, dass eine solche Revolte über die Grenzen Ägyptens hinausgeht, die Ausgebeuteten der gesamten Region mitreißt und die Lehren aus dem Arabischen Frühling 2011 zieht: Das Militär ist keinesfalls ein Verbündeter, sondern immer der Wächter der herrschenden Gesellschaftsordnung und der imperialistischen Weltordnung.