Viele Monate lang schien der Krieg in der Ukraine von beiden Seiten festgefahren. Von beiden Seiten, dem russischen Regime ebenso wie von Vertretern der imperialistischen Großmächte und des ukrainischen Regimes, kamen immer häufiger Andeutungen, dass man irgendwann an den Verhandlungstisch kommen müsse, um den Krieg zu beenden. Doch nun scheint das Gegenteil zu passieren: Mit einem Überraschungsangriff ist die ukrainische Armee zum ersten Mal in Russland selber einmarschiert und hat hier ein Gebiet besetzt – während die russische Armee nun umso aggressiver im Donbass angreift. Ist dies ihre menschenverachtende Art, Verhandlungen vorzubereiten, für die sie sich in eine möglichst gute Position bringen wollen? Oder wird hiermit eine weitere Verschärfung des Krieges eingeläutet?
Welche Interessen leiten die imperialistischen Großmächte und das russische Regime bei der Entscheidung, zu verhandeln oder den Krieg auszuweiten? Wohin kann er noch führen? Kann er sich auf Europa ausweiten? Und was steckt hinter den Reden der EU-Politiker, die erklären, Europa auf „Kriegswirtschaft“ umstellen zu wollen? Zu diesen Fragen veröffentlichen wir die gekürzte Übersetzung eines Artikels aus der Zeitschrift Lutte de Classe (Nr.239, April 2024), der zweimonatlichen Zeitschrift unserer französischen Genossen von Lutte Ouvrière.
Die USA und hinter ihr die europäischen Staaten führen bereits einen Stellvertreterkrieg gegen Russland. Dabei gibt es eine Rollenverteilung: Die Ukraine liefert das Kanonenfutter, die westlichen imperialistischen Mächte die Waffen. Trotz westlicher Waffenlieferungen, trotz hoher Verluste an Soldaten und landesweiter Razzien, die die Front mit Frischfleisch versorgen sollen, da Männer im wehrfähigen Alter vor der Einberufungsbefehl fliehen, gelingt es der Ukraine nicht, die besetzten Gebiete im Osten des Landes zurückzuerobern. Auf der anderen Seite ist es Putin mit der gleichen Missachtung für das Leben der Soldaten und gestützt auf einen aus der Vergangenheit übernommenen, aber zentralisierten und ausgedehnten militärisch-industriellen Apparat nicht gelungen, die Ukraine zu erobern. Russland besetzt etwa 20% des ukrainischen Territoriums.
Diese Situation ist instabil und kann sich auf verschiedene Weise entwickeln. Mal ganz abgesehen von der Möglichkeit eines Aufstands der russischen und ukrainischen Arbeiterklasse (für den derzeit keinerlei Anzeichen zu erkennen sind, weil sie die Opfer, die ihre Regierungen ihnen auferlegen, nicht mehr ertragen wollen. Auch unabhängig davon könnte die Front auf Seiten der Ukraine zerbrechen, weil sie nicht in der Lage ist, so viele Soldaten wie Russland aufzubringen.
Wie sich der Krieg entwickelt, hängt hauptsächlich von den Entscheidungen der beiden entscheidenden Protagonisten ab, Putin auf der einen Seite und die Staatschefs des US-Imperialismus (also Selenskyjs Paten) auf der anderen. Jeder von ihnen kann aus verschiedenen Gründen entweder versuchen, den Krieg weiter zu eskalieren oder umgekehrt eine Verhandlungslösung anzustreben, die beide Seiten zufriedenstellt und über die vielleicht schon verhandelt wird.
Um seine Macht zu sichern, muss Putin beweisen, dass er in der Lage ist, die Interessen der russischen Bürokratie und der Oligarchen zu schützen. Für die US-Führung ihrerseits ist ein vollständiger Sieg in der Ukraine nicht lebenswichtig. Die Herrschaft über diese ehemalige Sowjetrepublik ist nur eine von zahlreichen Operationen ist, mit denen der mächtigste Imperialismus seine Vormachtstellung aufrechterhalten und die Geschäfte seiner Kapitalisten ausbauen kann. Bislang hatte die US-Führung bislang allen Grund, diesen Krieg fortzusetzen, den ja schließlich die ukrainische Bevölkerung für sie führt. Doch eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses könnte sie dazu bringen, eine Vereinbarung zu treffen, die die Grenzen an den derzeitigen Frontlinien einfriert. (…)
Die europäischen Staats- und Regierungschefs spielen in dieser Angelegenheit nur die zweite Geige. Sie sind gezwungen, sich an die durch den Krieg in der Ukraine entstandene Situation anzupassen, um die Interessen ihrer jeweiligen Kapitalisten zu verteidigen.
Putin reagiert auf den Druck des Imperialismus
Putins Offensive gegen die Ukraine im Februar 2022 war eine vorhersehbare Reaktion auf den wachsenden Druck der imperialistischen Mächte, die seit dem Zerfall der Sowjetunion versucht haben, die wirtschaftliche und politische Kontrolle über die aus dem Zerfall hervorgegangenen Länder zu übernehmen.
Putin hat zwar die Invasion begonnen. Doch die imperialistischen Mächte haben die Kette der Ereignisse in Gang gesetzt, die ihn dazu veranlasst hat. Zwischen 1999 und 2004 traten die ehemaligen Volksdemokratien und die drei baltischen Staaten der NATO, dem von den USA geführten Militärbündnis, bei. Die NATO verfügt nun über zahlreiche Militärstützpunkte, tausende Soldaten, Flugzeuge, Kanonen und Panzer direkt an den Grenzen Russlands.
Im Februar 2014, nach den Ereignissen auf dem Maidan, dem Sturz des pro-russischen Präsidenten Janukowitsch und zwei Jahrzehnten des Hin und Her zwischen Russland und dem Westen, ging die Ukraine schließlich endgültig in das westliche Lager über. Dass sich die neue ukrainische Regierung sofort und vollständig hinter den US-Imperialismus stellte, veranlasste Putin, in die Offensive zu gehen – um die Interessen der russischen Privilegierten zu verteidigen, zu deren Gunsten er in den 2000er Jahren einen mächtigen Staatsapparat wieder aufgebaut hatte. Die aktive Russenfeindlichkeit der neuen Machthaber in Kiew diente als Vorwand für den Anschluss der Krim an Russland und die Abspaltung des pro-russischen Donbass.
Ab 2014 übernahmen die USA die ukrainische Armee, finanzierten sie massiv, versorgten sie mit Waffen, Drohnen und Munition, bildeten Soldaten und Offiziere aus und betreuten sie. Die New York Times hat nun öffentlich gemacht, was der breiten Öffentlichkeit bisher verheimlicht worden war: Die CIA unterhielt seit 2014 zwölf Stützpunkte in der Ukraine an der Grenze zu Russland.
Die USA erhielten auf diese Weise nicht nur Zugriff auf die politischen Entscheidungen und die Armee der Ukraine, sondern auch auf die ukrainische Wirtschaft. Westliche Finanzhaie erhielten Zugriff auf das reiche ukrainische Agrarland, auf die noch verstaatlichten Schlüsselindustrien, den Einzelhandel, den Bankensektor und andere Industriezweige. Der aktuelle Krieg beschleunigt die Umwandlung der Ukraine in eine Halbkolonie des westlichen Kapitals.
Seit zehn Jahren ist Putins Ukraine-Politik daher eine Abwehrreaktion des Chefs der russischen Bürokraten, um sich von der Bourgeoisie der imperialistischen Länder nicht kleinkriegen zu lassen. Trotz ihrer Brutalität und der Diktatur, die sie gegen ihre eigene Bevölkerung ausüben, bedrohen Putin und seine Generäle nicht „die Sicherheit Europas“. Im Gegenteil, es sind eher die imperialistischen Mächte, die als Bedrohung für die Sicherheit des russischen Staates erscheinen. Dies gilt im Übrigen für die Sicherheit aller Staaten der Welt, die zwar selbst keine entwickelten kapitalistischen Mächte sind, aber über die demografischen, militärischen und wirtschaftlichen Mittel verfügen, um sich zumindest nicht vollständig dem Diktat der Herren der kapitalistischen Welt zu unterwerfen.
Die Grenzen eines Krieges, den sie mit dem Blut der Ukrainer führen
Zu Beginn des Krieges waren die westlichen Politiker vorsichtig. Macron rief damals aus: „Russland darf nicht gedemütigt werden“, und gab vor, zu vermitteln. Die westlichen Politiker wiederholten: „Es geht nicht darum, NATO-Truppen zu stationieren“, denn „Wir befinden uns nicht im Krieg mit Russland“.
Diese Politiker behaupteten, sie hätten unüberwindbare rote Linien: „keine Lieferung von Panzern“, dann „keine Lieferung von Kampfflugzeugen“. Sie überschritten diese roten Linien eine nach der anderen.
Heute haben alle Länder, die Waffen an die Ukraine liefern, trotz ihrer Dementis Ausbilder und Militärberater vor Ort. Macrons Äußerung über den Einsatz von Soldaten hatte den Vorteil, den Schleier ihrer Anwesenheit zu lüften. Auch wenn die USA keine Zahlen veröffentlichen, haben sie mehrere Tausend solcher Militärberater in der Ukraine. Ein hochrangiger US-Beamter wurde von der New York Times wie folgt zitiert: „Drücken sie den Abzug? Nein. Tragen sie dazu bei, die Ziele anzuvisieren? Absolut.“ Zu den Militärberatern kommen noch die CIA-Agenten. In dem bereits zitierten Artikel der New York Times erfahren wir, dass unter Präsident Trump – der noch immer behauptet, er wolle die US-Streitkräfte aus Europa abziehen – die Zahl der CIA-Agenten in der Ukraine verzehnfacht wurde.
Aber auch noch so viele Militärberater sind kein Ersatz für Soldaten an der Front, die den Abzug betätigen können. Es wird immer offensichtlicher, dass Selenskyj und der ukrainische Staatsapparat Schwierigkeiten hat, die Truppen zu ersetzen, die an vorderster Front ausgeschaltet wurden oder nach zwei Jahren Krieg erschöpft sind. Die Korruption zerfrisst obendrein nicht nur die russische Armee. Der Verkauf von Papieren, die die Kinder der Privilegierten vor der Einberufung bewahren, und die allzu sichtbare Bereicherung der Kriegsgewinnler haben Selenskyj in den letzten Monaten dazu veranlasst, zahlreiche Minister und hohe Offiziere zu entlassen. Diese weitverbreitete Korruption trägt ebenso wie die Razzien der Feldjäger dazu bei, die einfache Bevölkerung gegen diesen Krieg und diejenigen, die von ihm profitieren, aufzubringen.
Die Angst, dass die Front in den nächsten Monaten zusammenbrechen könnte, beunruhigt die westlichen Generalstäbe. „Ohne amerikanische Hilfe ist ein kaskadenartiger Zusammenbruch entlang der Front in diesem Jahr möglich“, warnte ein amerikanischer Offizier, der Mitte März in der New York Times zitiert wird. Diese Befürchtung wird seitdem in den Mainstream-Medien aufgegriffen, vor allem unter dem Aspekt der schwachen westlichen Waffen- und Munitionslieferungen an die Ukraine. Diese Medienkampagne soll zum Teil die Beschleunigung der Waffenproduktion und den Übergang Europas zu einer „Kriegswirtschaft“ rechtfertigen, für die sich die meisten europäischen Politiker stark machen. Sie soll auch die Diskussionen innerhalb des amerikanischen Staatsapparats selbst beeinflussen, die vor dem Hintergrund des Präsidentschaftswahlkampfs geführt werden – eines Präsidentschaftswahlkampfes, in dem Trump und das republikanische Lager mit dem Slogan „Maine before Ukraine“ werben und die Frage aufwerfen, ob die US-Hilfe für die Ukraine fortgesetzt werden sollte.
Amerikanisches Zögern vor dem Hintergrund des Präsidentschaftswahlkampfs
In einem Artikel in der Zeitschrift des Außenministeriums, Foreign Affairs, mit dem Titel „Spionage und politische Kunst“ plädiert der Direktor der CIA, William J. Burns, für die Fortsetzung der US-Hilfe. Den Teilen der Republikaner, die behaupten, dass die Militärhilfe für die Ukraine zu teuer sei und die einen Rückzug in Erwägung ziehen, entgegnet er: „Mit einem Anteil von weniger als fünf Prozent am US-Verteidigungshaushalt ist sie eine relativ bescheidene Investition mit wichtigen geopolitischen Auswirkungen für die Vereinigten Staaten und bemerkenswerten Vorteilen für die US-Industrie.“ Er fügte hinzu: „Die Fortsetzung der Waffenlieferung wird die Ukraine in eine stärkere Position versetzen, wenn sich eine Gelegenheit für ernsthafte Verhandlungen ergibt. Wenn die USA sich in diesem entscheidenden Moment aus dem Konflikt zurückziehen und ihre Unterstützung für die Ukraine einstellen würden, wäre das ein historischer Fehler.“ Der CIA-Chef ist also der Ansicht, dass die politischen und materiellen Vorteile für die US-Kapitalisten einige zehn Milliarden Dollar wert sind, da der amerikanische Staat in seinen Augen keine Rechenschaft für die Hunderttausenden russischen und ukrainischen Opfer oder die Zerstörung eines ganzen Landes ablegen muss.
Für die USA sind der Krieg in der Ukraine und die Rivalität mit Putins Russland hingegen nur einer von vielen Brennpunkten in ihrem ständigen Kampf um ihre globale Vormachtstellung und die Aufrechterhaltung der imperialistischen Ordnung. Dieser Konflikt kommt zu den Kriegen hinzu, die überall durch die US-Politik erzeugt werden, insbesondere um die Kontrolle im Nahen Osten zu behalten, und zu der aggressiven wirtschaftlichen Rivalität mit China, die jederzeit zu einer militärischen Konfrontation führen kann. Für die Aufrechterhaltung der US-amerikanischen Vormachtstellung zählt die Rivalität mit China mehr als die Zukunft der Ukraine.
In jedem Fall wäre es riskant vorhersagen zu wollen, welche Haltung Trump in der Ukraine-Frage einnehmen würden, sollte er ins Weiße Haus zurückkehren. US-amerikanische Politiker, die sich im Wahlkampf befanden, haben schon häufiger angekündigt, sich aus dem einen oder anderen Konflikt zurückzuziehen – unter dem Vorwand, ihre Truppen woanders einzusetzen oder eine stärker isolationistische Politik zu führen – nur, um an der Macht dann eine völlig andere Politik zu verfolgen. So hatte Obama 2011, kurz bevor der Bürgerkrieg in Syrien explodierte, den Abzug der US-Truppen aus dem Irak und dem Nahen Osten versprochen. (…)
Mit Putin verhandeln oder den Krieg verschärfen?
Wir haben es wiederholt bekräftigt: Die Führer der imperialistischen Mächte wollen nicht den Sturz Putins und schon gar nicht die Destabilisierung des russischen Staatsapparats. Denn dieser würde in weiten Gebieten unkontrollierbare Zentrifugal-Kräfte freisetzen. Putin und die imperialistischen Herrscher arbeiten in Syrien seit über zehn Jahren zusammen: Sie versuchen dort die islamistischen Milizen zu zerschlagen, die ihre jahrelangen Kriege hervorgebracht haben. (In Afghanistan waren diese Kriege sowohl vom Westen wie von Russland geführt worden, im Irak nur vom Westen).
Die russische Armee spielt eine unersetzliche Rolle als Gendarm in Zentralasien und im Kaukasus. Die mitfühlende Haltung der US-Führung während des schrecklichen Anschlags auf eine Konzerthalle in der Nähe von Moskau, zu dem sich der sogenannte Chorasan-Zweig des Islamischen Staates (nach dem persischen Namen einer alten Provinz mit Zentrum im heutigen Afghanistan) bekannt hatte, erinnerte erneut daran, dass Krieg die Zusammenarbeit nicht ausschließt.
In den letzten zwei Jahren ist der Gesprächsfaden zwischen Putin und der US-Führung wahrscheinlich nie abgerissen. In dem bereits zitierten Artikel erzählt CIA-Direktor Burns, dass er im Februar 2022 von Biden nach Moskau geschickt wurde, um zu versuchen, Putin und seine Berater davon zu überzeugen, auf die Invasion zu verzichten. Vergeblich. Denn, so sagt er: „Sie überschätzten ihre eigene Position bei weitem und unterschätzten den Widerstand der Ukraine und die Entschlossenheit des Westens.“
Zwei Jahre später haben die Realitäten des Krieges die Dinge verändert. Putin ist es nicht gelungen, die Ukraine zu erobern. Doch die ukrainische Armee, die zwar vom Westen bewaffnet wurde, aber deren Truppen verschlissen sind, hat Schwierigkeiten, den russischen Vorstoß einzudämmen.
Ist die Zeit reif für „ernsthafte Verhandlungen“, wie Burns es formulierte? Oder wird der Westen stattdessen die Zahl seiner Militärberater in der Ukraine erhöhen und die Waffenlieferungen intensivieren? Sind sie in der Lage, diese Waffen massiv zu produzieren, bevor die russischen Truppen die Frontlinien durchbrechen? Und vor allem: Wie wird die ukrainische Arbeiterklasse auf die Zwangsrekrutierung und ein neues Mobilisierungsgesetz reagieren? Dies sind nur einige der vielen Fragen, die die Experten in den Fernsehstudios formulieren, ohne eine Antwort zu haben.
Auch die Staatschefs der europäischen Länder keine Antwort. Die europäischen Länder leiden unter den vielfältigen, insbesondere wirtschaftlichen Umwälzungen, die die US-Politik in der Ukraine hervorgerufen hat.
Da die Staatschefs der EU gezwungen sind, sich hinter die amerikanischen Entscheidungen zu stellen, versucht jeder von ihnen, zumindest so viel wie möglich für seine eigenen Kapitalisten dabei herauszuholen. Jeder zielt darauf ab, für seine Konzerne möglichst viele Aufträge im Krieg und beim zukünftigen Wiederaufbau zu ergattern. Der Markt für den Wiederaufbau der Ukraine war Gegenstand von zwei internationalen Konferenzen, obwohl der Krieg immer noch tobt. Was die Rüstungsindustrie betrifft, die bereits durch die Zunahme der Kriege in der Welt mit Aufträgen gefüttert wird, so arbeiten die europäischen Politiker daran, sie noch weiter auszubauen, indem sie den Übergang zu einer „Kriegswirtschaft“ organisieren.
Die „Kriegswirtschaft“ – ein Jackpot für Industrie und Banken
In den letzten zwei Jahren sind in ganz Europa die Staatshaushalte für den Kauf von Kriegsgeräten explodiert. Für die Rüstungskonzerne ist jeder Tag Weihnachten.
Auf seiner letzten Pressekonferenz am 27. März listete der französische Militärminister Sébastien Lecornu die Aufträge auf, die auf ihre Auslieferung warten: 2 Milliarden Euro für Safran, 3 Milliarden für den Raketenbauer MBDA, 4 Milliarden für die Naval Group, jeweils 5 Milliarden für Airbus Defence and Space, Airbus Helicopters, Dassault, 6 Milliarden für Thales usw. Lecornu kam auf einen Gesamtwert von 34 Milliarden Euro an ausstehenden Aufträgen. Dieser Betrag ist höher als die beiden letzten Pläne für Haushaltskürzungen, die für 2024 und 2025 beschlossen wurden, zusammen! Er entspricht den Kosten für den Bau von 100 neuen Krankenhäusern.
Das Problem der Armeechefs ist jedoch, dass die Zeit zwischen Bestellung und Lieferung zu lang ist. Die Industrie nimmt die Aufträge entgegen, kommt ihnen aber nur zögerlich nach. Dafür werden viele Gründe angeführt: unzureichende Produktionskapazität, Mangel an ausgebildeten Arbeitskräften, Mangel an Rohstoffen, Mangel an Ersatzteilen, Konkurrenz zwischen den Herstellern, Konkurrenz zwischen der zivilen und der militärischen Industrie. Selbst dort, wo die Produktionsgeschwindigkeit etwas erhöht wurde – so soll die Produktionszeit einer Caesar-Kanone seit Beginn des Krieges in der Ukraine von 30 auf 15 Monate gesunken und die Anzahl der monatlich produzierten Kanonen von 2 auf 8 gestiegen sein – so haben sich die Kapitalisten nicht beeilt, die sehr teure Investitionen vorzunehmen, die für eine deutliche Produktionssteigerung notwendig wären. Und vor allem verhält es sich mit der Rüstungsindustrie wie mit allen Bereichen der kapitalistischen Wirtschaft:
Es gibt keine wirkliche Planung, da die Produktionsschritte zersplittert erfolgen, durchgeführt von einer Vielzahl von Subunternehmern, die über den ganzen Erdball verstreut sind und die konkurrierende Industrieunternehmen beliefern. Daher ist es eine Herausforderung, die bestellte Menge pünktlich zu produzieren. Die Rüstungsindustrie steht vor denselben Hindernissen wie die Automobilindustrie, die vor zwei Jahren mit einem Mangel an Halbleitern konfrontiert war. Die Zulieferer verkaufen vorrangig an den Meistbietenden, egal ob dieser aus dem Militärsektor kommt oder nicht. Die Anarchie der kapitalistischen Wirtschaft macht auch vor dem Militärsektor nicht halt.
Um die verschiedenen Industriellen in Zugzwang zu bringen oder ihnen die Arbeit zu erleichtern, hat die französische Regierung im letzten Gesetz zur militärischen Planung wieder die Möglichkeit verankert, bei Bedarf „Personal, Lagerbeständen oder Produktionswerkzeugen“ beschlagnahmen zu dürfen. (…)
Die Wende in Richtung Kriegswirtschaft zu beschleunigen, ist eines der Ziele der säbelrasselnden Äußerungen. So präzisierte Lecornu am Tag nach Macrons Äußerung zur möglichen Entsendung europäischer Truppen in die Ukraine die bereits in Betracht gezogenen Wege, die Kriegswirtschaft voranzutreiben: „Französische Unternehmen werden Partnerschaften mit ukrainischen Unternehmen gründen, um auf ukrainischem Boden Ersatzteile und morgen vielleicht sogar Munition, zu produzieren.“ Er möchte „ein strategisches Bündnis für industrielle und militärische Produktion mit der Ukraine schmieden und dafür Rüstungsexperten und Rüstungsindustrielle vor Ort, in der Ukraine haben“. Auch wenn die massive Entsendung französischer und europäischer Truppen in die Ukraine kurzfristig wahrscheinlich nicht auf der Tagesordnung steht, hat die Ansiedlung von Rüstungskapitalisten auf ukrainischem Boden bereits begonnen. Sie werden von den dortigen unterbezahlten und qualifizierten Arbeitskräften profitieren und gleichzeitig in unmittelbarer Nähe der Schlachtfelder sein, um ihre Ausrüstung anzupassen.
Wie auch immer sich der Krieg in der Ukraine entwickeln wird, der Krieg ist eine Realität, für die die einfache Bevölkerung bereits bezahlt. In Russland und der Ukraine bezahlen sie ihn mit ihrem Blut und mit drastischen Kürzungen bei den wenigen noch vorhandenen Sozialausgaben. In der Ukraine mit der Übernahme staatlicher Betriebe und der Ressourcen des Landes durch westliche Kapitalisten. Die einfache Bevölkerung wird diesen Krieg darüber hinaus noch jahrzehntelang über die Rückzahlung der Kriegsschulden bezahlen.
In anderen europäischen Ländern zahlt die einfache Bevölkerung diesen Krieg durch die Militarisierung der Staatshaushalte. Denn die westlichen Staaten bezahlen die Rüstungskonzerne sofort und auf Heller und Pfennig für die Herstellung der Waffen, die sie an die Ukraine liefern – bevor sie dann der Ukraine die Rechnung hierfür präsentieren werden. Die Bevölkerungen in Europa bezahlen sie weiterhin mit der Militarisierung in den Köpfen. Solange der Imperialismus herrscht, wird es keinen Frieden geben.