Indien: Was steckt hinter dem angeblichen Wirtschaftswunder? 

Nach zehn Jahren an der Macht hat Premierminister Narendra Modi im Namen der Indischen Volkspartei (BJP) erneut die Wahlen gewonnen. Es ist seine dritte Amtszeit in diesem Land, das fast 1,5 Milliarden Menschen zählt. Trotz seines Netzwerkes aus gesellschaftlichen und religiösen Organisationen, die Propaganda für seine Wiederwahl gemacht haben und trotz der Repression, der Verhaftungen und Drohungen, der die Oppositionsparteien im Vorfeld der Wahlen ausgesetzt waren, hat Modi jedoch deutlich an Stimmen und Sitzen eingebüßt und die absolute Mehrheit verloren.
 
Sein Wahlkampf war geprägt von einer noch schlimmeren Hetze gegen die muslimische Minderheit, die 200 Millionen Menschen in Indien zählt und die von der hinduistischen, nationalistischen BJP seit Jahren als Sündenbock missbraucht wird. Sein wichtigstes Argument im Wahlkampf war jedoch die wirtschaftliche Entwicklung. Als er vor zehn Jahren an die Macht kam, sei Indien instabil gewesen und habe sich nun dank ihm zum „aufsteigenden Stern“ der Weltwirtschaft entwickelt. Auch in Europa wird immer wieder vom angeblichen indischen Wirtschaftswunder und dem Aufstieg Indiens zur neuen Weltwirtschaftsmacht gesprochen. Was steckt wirklich hinter diesem „Wirtschaftswunder“?
 
Zu diesem Thema veröffentlichen wir die gekürzte Übersetzung eines Artikels aus der Zeitschrift Lutte de Classe (Nr.239, April 2024), der zweimonatlichen Zeitschrift unserer französischen Genossen von Lutte Ouvrière. Der Artikel erschien vor den Wahlen unter dem Titel: „Nach 10 Jahren Modi- und BJP-Regierung: Indien zur Stunde der Wahlen“.

Ein trügerischer Wirtschaftsaufschwung

Fünfundsiebzig Jahre nach der Unabhängigkeit ist Indien gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) zur fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen und hat die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien überholt, die zwei Jahrhunderte lang Indiens Bevölkerung ausgehungert, einen Großteil seiner aufstrebenden Industrie zerstört und seine Rohstoffe geplündert hat.

Premierminister Modi verspricht ein „goldenes Zeitalter“ und will sein Land zu einer Supermacht machen, die mit China und den USA konkurrieren kann. Doch hinter der nationalistischen Propaganda und den Show-Effekten, für die der BJP-Führer bekannt ist, stellt sich die Frage, welche Rolle die indische Bourgeoisie in dem weltweit tobenden Wirtschaftskrieg wirklich spielt.

Modi genießt das Wohlwollen der imperialistischen Führer. Zwar hat Indien in einigen Konflikten wie der Ukraine eine scheinbare Neutralität bewahrt. Aber gegen China hat es mit den imperialistischen Mächten ein diplomatisch-militärisches Bündnis geschmiedet (allen voran den Quadrilateraler Sicherheitsdialog „Quad“ mit den USA, Australien und Japan). Da Indien über fast keine Verteidigungsindustrie verfügt, ist es dabei ein vielversprechender Markt. (…)
Im September letzten Jahres war Indien auch Gastgeber des G20-Gipfels, den Modi groß inszenierte. Dies bot ihm die Gelegenheit, seine Wirtschaftspolitik vor der Augen der ganzen Welt anzupreisen und sich als Führer des „globalen Südens“ aufzuspielen, der im Namen der ärmsten Nationen sprechen würde. Was macht es schon, dass – um die „richtigen“ Bilder für die Weltöffentlichkeit zu produzieren – 100.000 Polizisten mobilisiert werden mussten, dass die Armen und der Müll der Hauptstadt versteckt wurden, dass Wände neu gestrichen wurden, dass Banner mit dem G20-Logo und dem Porträt von Narendra Modi in der ganzen Stadt aufgehangen wurden, dass Brunnen, ein künstlicher Wasserfall und sogar 700.000 Blumentöpfe kurzzeitig aufgestellt wurden? Dass dafür 300.000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben und 25 Slums zerstört wurden?

Modi beansprucht für Indien den Titel der fünftgrößten Weltmacht und macht keinen Hehl aus seinen Ambitionen, bis 2047 (dem 100. Jahrestag der Unabhängigkeit Indiens) den dritten oder sogar zweiten Platz zu erreichen.

Mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von über 7% in den letzten beiden Jahren ist Indien in der Tat eine Ausnahme in einer Weltwirtschaft. Denn die ist geprägt von einer allgemeinen Verlangsamung und der Verschärfung des Wirtschaftskriegs zwischen den kapitalistischen Mächten und den großen Konzernen und Banken, die die Welt seit Jahrzehnten unter ihrer Kontrolle haben. Indiens BIP hingegen könnte in den kommenden Jahren tatsächlich die Marke von 5.000 Milliarden US-Dollar überschreiten. Dieses Wachstum geht mit einem Boom der indischen Börsenwerte einher, die zum Teil von der Flaute auf den chinesischen Finanzmärkten in den letzten Jahren profitieren.

Ein weiterer Ausdruck dieses Aufschwungs ist die steigende Zahl an Milliardären. Von dem Slogan des Regimes „Wachstum für alle“ sind wir weit entfernt. Laut der Forbes-Liste aus dem Frühjahr 2023 wäre Indien sogar das Land mit der drittgrößten Anzahl an Milliardären weltweit: 169 Milliardäre, die über ein Gesamtvermögen von 675 Milliarden US-Dollar verfügen.
Der indische Kapitalismus ist um etwa 20 mächtige Familienkonzerne herum strukturiert, die seit langem mit der politischen Macht verbunden sind, dank deren Unterstützung sie ihre Konkurrenten verspeist haben. Sie waren die großen Nutznießer der Privatisierung der Eisenbahn, der Strom- und Kohle-Branche, der Häfen und der nationalen Containergesellschaft. Zu diesen Dynastien und wahren Blutsaugern gehören:

Reliance Industries des Industriemagnaten Mukesh Ambani, dem reichsten Mann des Landes, der in zahlreichen Branchen erfolgreich ist: Öl, Gas, Petrochemie, Telekommunikation und Einzelhandel.

Die Adami Group, die in drei Jahrzehnten zum größten privaten Hafenbetreiber des Landes, zu einem der größten privaten Flughafenbetreiber, einem Strom- und Stadtgasversorger geworden ist. Ihr Leiter, Gautam Adani, ist derzeit im Herzen eines aufsehenerregenden Skandals wegen Geldwäsche, Veruntreuung öffentlicher Gelder und Korruption.

Die Aditya Birla Group ist führend im Aluminiumsektor, aber auch in den Bereichen Kupfer, Zement, Chemie und Textilien tätig.

Bharti Airtel ist ein Telekommunikationsriese.

Und da ist außerdem Tata, deren Aktivitäten von Stahl über Tafelsalz bis hin zu Luxushotels und der Automobilbranche reichen.

Diese modernen „Nabobs“ (ein ehemaliger Herrschertitel, der heute in Indien für Menschen mit viel Reichtum und Einfluss genutzt wird) haben zwar riesige Vermögen angehäuft. Doch diese Vermögen spiegeln in keiner Weise die Entwicklung der landwirtschaftlichen oder industriellen Produktion oder der Dienstleistungen wider, von denen die Bevölkerung profitieren könnte – ebenso wenig wie all die Statistiken, mit denen die Effizienz der Wirtschaft aus Sicht der kapitalistischen Interessen gemessen werden sollen. Sie spiegeln vor allem den zunehmenden Parasitismus einiger weniger großer bürgerlicher Dynastien wider. Die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung eignen sich 77% des nationalen Reichtums an. Und allein die reichsten 1% besitzen 40,1% dieses Reichtums.

(…) Indien ist mit seinen 1,43 Milliarden Einwohnern nach wie vor das Land mit dem niedrigsten Pro-Kopf-Einkommen der G20: 1.947 Euro pro Jahr, also kaum mehr als 5 Euro pro Tag – ein Durchschnitt, hinter dem sich zudem immense Ungleichheiten verbergen. Im Welthunger-Index (WHI) belegt es sogar den 111. Platz von 125 sogenannten „Schwellenländern“, knapp vor Afghanistan oder Haiti – und das, obwohl Indien der größte Reisexporteur der Welt ist. Das hat Modi jedoch nicht daran gehindert, kurz nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine zu behaupten, Indien könne die ganze Welt ernähren. Schon zur Zeit der britischen Kolonialherrschaft wurde das Land von Hungersnöten heimgesucht, während die mit Getreide beladenen Schiffe in Richtung britisches Mutterland in See stachen. Die Hungersnot von 1943, als Churchill Premierminister war und der Krieg tobte, soll fast 5 Millionen Opfer gefordert haben. Indiens Index für menschliche Entwicklung (HDI) liegt heute auf Platz 132 der Weltrangliste. Das Pro-Kopf-BIP ist fünfmal niedriger als in China, achtzehnmal niedriger als im Vereinigten Königreich oder in Frankreich und niedriger als in Vietnam, Namibia oder Marokko.

Der Segen des russischen Öls

Indien ist (…) weit entfernt von einem „strukturellen Wandel der Wirtschaft“, der das Land zur „Lokomotive des globalen Wachstums“ machen würde, nach der die Weltbourgeoisie vergeblich sucht, um ihre Produktion anzukurbeln und ihre Profitmaschine zu füttern. Doch der Krieg zwischen Russland und der Ukraine kam der indischen Bourgeoisie in der Tat sehr zugute und ermöglichte es ihr, ihre Statistiken zu verschönern.

Die russischen Konzerne, hauptsächlich Gazprom Neft, Lukoil, Rosneft, Surgutneftegas, denen seit 2022 schrittweise der Zugang zum europäischen Markt verwehrt wird, beliefern nun die indischen Raffinerien. Mehr als die Hälfte ihres Rohöls wird einer einzigen Raffinerie verarbeitet, der Jamnagar Refinery im Bundesstaat Gujarat. Es ist die größte Raffinerie der Welt, und sie befindet sich im Besitz von Reliance Industries, dem Konzern von Mukesh Ambani. Es heißt, wenn alle in dieser Raffinerie verwendeten Rohre aneinander gelegt würden, würden sie ganz Indien von Nord nach Süd verbinden.

Fast zwei Drittel des in Tankern transportierten russischen Öls wird wohl derzeit nach Indien verschifft, was Indien nach China zum zweitgrößten Markt für russisches Öl macht und es den indischen Unternehmen ermöglicht, dieses ihrerseits in die ganze Welt zu exportieren. Doch die russischen Unternehmen, die bis vor kurzem aufgrund ihres Ausschlusses aus dem internationalen Bankensystem gezwungen waren, ihr Öl in Rupien zu verrechnen und Konten in Rupien zu eröffnen, konnten diese nicht einmal auf dem indischen Markt ausgeben, da dort nur wenige Waren produziert werden, die für Russland von Interesse sind. Dieses Hütchenspiel hat den internationalen Öl-Handel bislang aufrechterhalten … und mit ihm die Profite der Konzerne und Spekulanten. Es verdeutlicht aber auch die Rolle des indischen Kapitals als untergeordneter Vermittler.

„Die Stunde Indiens“?

Nach seinem Amtsantritt im Jahr 2014 rief Modi das Programm „Make in India“ ins Leben, um den noch immer kümmerlichen Sektor der industriellen Produktion zu fördern. Es richtete sich an ausländische Investoren mit dem Aufruf: „Kommt zum Produzieren nach Indien“.

Um die inländische Produktion zu fördern, hat die Regierung unter dem Motto „India first“ die Einfuhrzölle und -steuern drastisch erhöht (bis 2022 auf durchschnittlich 18%). Um die Exporte zu fördern, hat Indien ab 2020 insbesondere im Bereich der Hochtechnologie ein Subventionsprogramm in Höhe von insgesamt 22 Milliarden US-Dollar aufgelegt. Diese Summe ist zwar sehr hoch, aber angesichts der Größe der Herausforderung doch eher gering. Zumal nicht weniger als 14 Branchen, die als vorrangig eingestuft wurden (darunter die Herstellung von Smartphones, medizinischen Produkten und Autoteilen) von diesen Subventionen profitierten.

Die Regierung hat weitaus höhere Ausgaben für die seit jeher dringend benötigte Infrastruktur (Eisenbahn, Straßen, Stromnetz, Hafenanlagen usw.) getätigt. Von 2014 bis 2024 stiegen ihre Investitionen von 63 auf 208 Milliarden Euro. Diese Investitionen im Auftrag der Kapitalisten haben in jüngster Zeit zwar einige große ausländische Konzerne angelockt. So hat Apple einen Teil seiner Produktion bestimmter (weniger anspruchsvoller) iPhones nach Indien verlagert. Andere haben angedeutet, zukünftig in Indien investieren zu wollen. Insbesondere hat Tesla-Chef Elon Musk erklärt, dass er die Errichtung einer Giga-Factory in Indien erwäge (aber wo erwägt er dies nicht?). General Electric will wohl demnächst Motoren für Kampfflugzeuge in Indien bauen. Aber einige haben sich auch bereits umentschieden, wie der taiwanesische Riese Foxconn. Ursprünglich hatte dieser hier 2023 ein Unternehmen zur Produktion von Halbleitern und Bildschirmen im Wert von rund 20 Milliarden US-Dollar aufbauen, was von der Modi-Regierung triumphierend angekündigt worden war.

Im Automobilsektor sind die Zölle so hoch (70% bis zu einem Wert von 40.000 USD, 100 % wenn er darüber liegt), dass der Markt in den Händen von vier Herstellern bleibt: Maruti Suzuki, Tata, Hyundai und Mahindra. Der Renault-Konzern, der in Chennai eine mit Nissan gemeinsam betriebene Fabrik unterhält, setzte im vergangenen Jahr nur 40.000 Fahrzeuge ab. Das Problem für die Hersteller ist weiterhin, dass die Zahl der potenziellen Kunden auf dem indischen Markt gering bleibt: Der Kauf eines Autos, insbesondere eines E-Autos, ist nach wie vor ein Privileg der wohlhabendsten Bevölkerungsgruppe.

Bisher sind die ausländischen Investitionen auf einem sehr niedrigen Niveau geblieben. Im Jahr 2022 wurden in Indien nicht einmal ein Viertel der Summe investiert, die in China investiert wurde. Die Länder des Verbands Südostasiatischer Nationen (ASEAN) erhielten 4,5 Mal so viele ausländische Investitionen wie Indien. Außerdem handelt es sich bei einem Teil dieser Investitionen um indisches Kapital, das in den Steueroasen Mauritius oder Singapur angelegt wird, bevor es wieder nach Indien zurückfließt. Die Folge ist, dass Indien im Bereich der Produktion von Industriegütern ein Zwerg bleibt: Noch immer findet hier nur 3% der weltweiten industriellen Wertschöpfung statt, während es in China fast ein Drittel sind. Indien wird China also nicht in der Lage sein, China den Rang als Werkbank der Welt abzulaufen. (…)

Elend, soziale Gewalt und Unterentwicklung

Das Hauptmerkmal der anhaltenden Unterentwicklung – ein Erbe der britischen Kolonialherrschaft – ist die Tatsache, dass noch immer fast die Hälfte der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt ist, obwohl der Agrarsektor nur noch etwa 15% zum BIP beiträgt. Hunderte Millionen Menschen hausen auf winzigen Parzellen von weniger als einem Hektar, ohne landwirtschaftliches Gerät oder Bewässerungssystem – Parzellen, die ihnen kaum genug zum Leben bieten. Oder sie sind der Herrschaft von Großgrundbesitzern, Kreditgebern und der Agrarindustrie unterworfen.

Die Produktivität bleibt daher auf sehr niedrigem Niveau. Etwa alle 30 Minuten begeht ein Bauer Selbstmord (…). Wenn der Preis für Reis oder Zwiebeln in die Höhe schnellt, wie im letzten Herbst, ist wortwörtlich das Überleben des ärmste Teil der Gesellschaft bedroht (…).

Doch die armen Bauern leiden nicht einfach nur. In Indien kommt es jedes Jahr zu Protesten, bei denen bis zu zehn Millionen Bauern auf die Straße gehen. Im Jahr 2020 wurden einige der Hauptstraßen in der Hauptstadt von Bauern besetzt und blieben fast ein Jahr lang blockiert. Diese Bewegung, bei deren Niederschlagung mehr als 700 Menschen ums Leben kamen, hat Modi dazu gezwungen, drei geplante Gesetze zur Liberalisierung der Agrarmärkte zurückzunehmen. Im Februar dieses Jahres wurde ein weiterer Marsch der Bauern auf Neu-Delhi gestartet, um die Einführung eines garantierten Mindestpreises für ihre Ernte zu fordern. Die Demonstranten wurden jedoch 200 km von der Hauptstadt entfernt mit geradezu militärischen Mitteln aufgehalten.

Die Situation der Frauen ist ebenfalls ein Indikator für den Grad der allgemeinen Rückständigkeit des Landes. Nur 23% von ihnen gehen einer Arbeit nach. In der verarbeitenden Industrie stellen sie nur 17% der Beschäftigten. Diese Situation hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten noch verschlechtert. Fast alle Frauen, die einen Beruf ausüben, haben nur einen unsicheren Arbeitsplatz, häufig in Teilzeit, und werden noch schlechter bezahlt als Männer.

Die große Masse der Arbeitenden leidet unter sehr unsicheren Arbeits- und Lebensbedingungen. Über 85% der Arbeitsplätze sind nach wie vor im informellen Sektor angesiedelt, d.h. ohne Arbeitsvertrag, Lohnabrechnung oder irgendwelche Rechte. Seit zwei Jahrzehnten ist immer noch jeder vierte Jugendliche arbeitslos, und das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts ändert daran nichts. Die Zahl der jährlich neu geschaffenen Arbeitsplätze kann die 10 bis 12 Millionen jungen Menschen, die zur gleichen Zeit auf den Arbeitsmarkt drängen, nicht aufnehmen. Millionen von ihnen wandern jedes Jahr aus, um in den Hochburgen des Imperialismus, in Zentralasien und vor allem in den Öl-Monarchien am Golf ausgebeutet zu werden (…).

Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und von Großkonzernen verfügen nach wie vor zumindest über ein bisschen soziale Absicherung, insbesondere über eine Kranken- oder Unfallversicherung. So etwas wie einen Krankenschein gibt es jedoch nicht. Und viele Rechte, die in den alten Arbeitsgesetzen verankert waren, wurden in den letzten Jahren verwässert oder abgeschafft, um „die Geschäftspraxis zu erleichtern“. So sind nach dem neuen Arbeitsgesetz die Fabrikbesitzer mit weniger als 20 Beschäftigten von jeglicher Verantwortung befreit. Die tägliche Arbeitszeit wurde auf zwölf Stunden angehoben. (…)

Die Zukunft gehört der Arbeiterklasse

Egal, aus welchem Blickwinkel man die indische Wirtschaft betrachtet: Sie ist gekennzeichnet von den ererbten Merkmalen der kolonialen und imperialistischen Herrschaft über den Subkontinent:

  • eine Landwirtschaft mit viel zu vielen Beschäftigten, in der Hunderte Millionen Menschen ständig unter dem Damoklesschwert von Hunger und Missernten leben, in Elend, Isolation und dörflicher Rückständigkeit, in der Zwangsjacke der Traditionen und der Unterdrückung durch Großgrundbesitzer
  • unwürdige Wohn- und sanitäre Bedingungen, einschließlich des Fehlens von Toiletten und einer Abwasserentsorgung
  • ein dramatischer Mangel an Infrastruktur und Industrie

All dies sind Entwicklungs- und Investitionshemmnisse für die Kapitalisten. Aber es sind auch starke Triebkräfte für eine gesellschaftliche Revolution.

Indien, das zutiefst von den Merkmalen seiner feudalen und kolonialen Vergangenheit geprägt ist, hat sich als untergeordnetes Land in den kapitalistischen Weltmarkt eingefügt. Einigen großen bürgerlichen Dynastien ist es gelungen, mit Hilfe von Investitionen und der Unterstützung des Bundes und der Bundesländer regelrechte Imperien aufzubauen, die zahlreiche Wirtschaftszweige umfassen. Sie waren jedoch nicht in der Lage, eine gesellschaftliche Klasse zu bilden, die ihre eigene Wirtschaft vereinen und entwickeln konnte.

Die historische Stellung Indiens als „blockfreie“ Macht ermöglicht es dem Land, sich im wirtschaftlichen und politischen Krieg der kapitalistischen Großmächte noch einen gewissen Handlungsspielraum zu bewahren. Doch das ist ein immer schmaler werdender Grat. Der Druck des US-Imperialismus, der das Land zu einem strategischen Verbündeten gegen China gemacht hat, hat die indische Neutralität weitgehend überwunden. Das liegt im Zeitalter des Imperialismus im Grunde in der Natur der nationalen Bourgeoisie in den armen Ländern. Die Unterstützung für den Staat Israel ist ein weiteres Beispiel hierfür. Indien ist seit 2017 durch Abkommen über Waffenlieferungen mit dem israelischen Staat verbunden und hat nicht gezögert, ihn bei seiner Vernichtungspolitik im Gazastreifen zu unterstützen, wobei Modi auch Anwerbeaktionen organisiert, um Arbeiter nach Israel zu schicken.

Aber allein schon mit ihren 30 Millionen Bergbau- und Industriearbeitern stellt die Arbeiterklasse eine beträchtliche soziale Kraft dar, zu der noch die Bataillone dutzender Millionen weiterer Arbeitender und Arbeitsloser hinzukommen.

Nur die Arbeiterklasse, die Unterstützung unter den armen ländlichen Massen findet, wird in der Lage sein, die Unterwerfung unter die Diktatur des Kapitals zu beenden und die Kämpfe der Ausgebeuteten unabhängig von ihrer Sprache, ihrem Glauben oder ihrer Kaste zu vereinen. Vor etwas mehr als einem Jahrhundert hatte in Russland (einem weiteren demografischen und geografischen Riesen) die Arbeiterklasse, wenn auch in der Minderheit, dank ihres hohen Bewusstseins und ihrer Erfahrungen, die sie unter der Führung der bolschewistischen Partei erworben hatte, eine solche Revolution mitten im Weltkrieg erfolgreich durchgeführt.
 
Die Verschärfung der Widersprüche, die sich aus der imperialistischen Herrschaft und der weltweiten Kriegsentwicklung ergeben, machen den Aufbau einer Partei in Indien, die für die Perspektive der proletarischen Revolution und des Internationalismus wirkt, zu einer absoluten Notwendigkeit.