Die EU hat im Zuge des Ukrainekriegs die Einfuhrzölle auf ukrainische Produkte ausgesetzt und „Transitkorridore“ für ukrainisches Getreide eingerichtet, das für den Export aus Europa bestimmt ist. Diese Maßnahmen haben den Zorn der europäischen Landwirte hervorgerufen, allen voran der Landwirte in den Nachbarländern Polen, Tschechien und Rumänien. Polnische Landwirte entleerten Lastwagen voller Getreide auf den Straßen. Die polnische Regierung schloss mehrmals ihre Grenzübergänge. Trotzdem hielt die EU, auf maßgeblichen Druck Deutschlands und Frankreichs, an den zollfreien Importen ukrainischen Getreides fest.
Dieser Streit führt vor Augen, welch ein Gewicht eine Handvoll Agrarholdings erlangt haben, in denen ukrainische Oligarchen mit westlichen Investmentfonds zusammenarbeiten. Dieses Geschäftsmodel zu sichern und weiter auszubauen ist eines der Ziele des Krieges in der Ukraine. Wir veröffentlichen zu diesem Thema die gekürzte Übersetzung eines Artikels aus der Zeitschrift Lutte de Classe (Nr.238, März 2024), der zweimonatlichen Zeitschrift unserer französischen Genossen von Lutte Ouvrière.
Vor dem Krieg war die Ukraine der viertgrößte Getreideexporteur der Welt, hinter den USA, Russland und Argentinien. Sie exportierte vor allem nach Ägypten, China, Indien und in die Türkei, relativ wenig nach Europa. Die 2016 mit der EU unterzeichneten Freihandelsabkommen und vor allem die Erlaubnis, ukrainische Exporte durch die EU zu leiten, seit die Schwarzmeerhäfen aufgrund des Ukraine-Kriegs blockiert sind, haben die Lage verändert (…).
Die Ukraine ist nach Russland das größte Agrarland Europas mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche von 41,5 Millionen Hektar. Sie verfügt über einige der fruchtbarsten Ackerflächen der Welt, die berühmten Böden aus „schwarzer Erde“, und ihr Ackerland entspricht einem Drittel der gesamten Ackerfläche der Europäischen Union. Die ukrainische Landwirtschaft ist jedoch in zwei völlig gegensätzliche Welten gespalten.
Auf der einen Seite gibt es etwa 4 Millionen winzige Betriebe mit einer Fläche von weniger als einem Hektar – ein Produkt der Auflösung der Kolchosen und Sowchosen aus der Sowjetzeit. Diese winzigen Betriebe liefern jedoch die Hälfte der nationalen Agrarproduktion, darunter 98% der Kartoffeln, 85% des Obst und Gemüses und 80% der Milch. In den letzten zwei Jahren haben viele dieser Bauern vor allem im Osten des Landes, wo die Kämpfe am heftigsten sind, ihre Wohnungen, ihr Land und ihre Lebensgrundlage verloren. Die Landbevölkerung wurde außerdem in deutlich höherem Maße eingezogen als die Stadtbewohner, für die es einfacher ist, sich zu verstecken, sich von der Armee befreien zu lassen oder ins Ausland zu fliehen. Die „Kleinen“, vor allem die Kleinbauern, kämpften und starben, während die Oligarchen im Hinterland oder im Ausland florierten.
Auf der anderen Seite kontrollieren 35.000 Betriebe 80% des Agrarlandes. Davon sind 4.500 landwirtschaftliche Betriebe mit einer Größe von mehr als 1.000 Hektar und 184 Agrarholdings, die zwischen 10.000 und 570.000 Hektar bewirtschaften. Diese beiden letzten Kategorien kontrollieren mehr als die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche der Ukraine und haben praktisch ein Exportmonopol. Ihre reichen Besitzer gehören zu den Profiteuren eines Krieges, der die Landkonzentration, die Landbesitzreformen und die Kontrolle westlicher Kapitalisten über die Produktionsmittel des Landes beschleunigt hat.
Die Macht der Agrarholdings
Agrarholdings sind Konzerne, die zahlreiche Agrarunternehmen kontrollieren: Entweder kontrollieren sie eine ganze vertikale Kette an Unternehmen, vom Anbau des Landes über die Produktion der Landmaschinen, die Verarbeitung oder die Lagerung der Ernte bis hin zu ihrem Export. Oder sie kontrollieren horizontal einen oder mehrere Produktionszweige – Getreide, Speiseöle, Geflügel oder Schweinezucht – und haben in diesem Produktionszweig quasi ein Monopol. Sie verfügen über neue und leistungsfähige landwirtschaftliche Anlagen und Geräte, die vom US-Konzern John Deere oder anderen westlichen Industrieunternehmen verkauft werden. Sie setzen Satelliten und Drohnen ein, um das Ausbringen von Düngemitteln zu optimieren und den Zustand der Kulturen zu überwachen.
Die Kapital und Rechtsstruktur dieser Holdings ist komplex und sehr wandelbar. Der Hauptaktionär ist meist ein ukrainischer Oligarch, d. h. einer jener Milliardäre, die aus der sowjetischen Bürokratie hervorgegangen sind und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion große Teile der zuvor staatlichen Wirtschaft in ihre Hände bekommen haben. Die Holding ist eine Muttergesellschaft, die das Dach für eine Vielzahl von Tochtergesellschaften bildet. Diese Muttergesellschaften haben ihren Hauptsitz in Luxemburg oder Zypern, um Steuern und Abgaben zu umgehen, oder auch in Amsterdam oder New York, um von der dortigen rechtlichen Sicherheit des Privateigentums zu profitieren. Denn dieses Recht ist in der Ukraine nach wie vor alles andere als garantiert.
Die größte Holding ist Kernel. Sie bewirtschaftet 570.000 Hektar und ist auf Sonnenblumenöl spezialisiert. Sie hat ihren Sitz in Luxemburg und gehört Andrij Verevskyi, der auf Platz 16 der reichsten Ukrainer steht. An zweiter Stelle steht UkrLandFarming, 403.000 Hektar, die in Getreide, Eier und Milch investiert. Sie hat ihren offiziellen Sitz in Zypern und gehört Oleg Bakhmatyuk, der vor einem kriegsbedingten Rückschlag auf Platz 28 der reichsten Ukrainer stand.
Ähnliches gilt auch für MHP, 370.000 Hektar groß, der dritten Holding auf dem Podium. Sie gehört Jurij Kossjuk, der als „Hühnerkönig“ bekannt ist, da er 60% des Geflügels des Landes exportiert: mittlerweile übrigens zu einem Drittel nach Europa, während es vor dem Krieg noch weniger als 20% waren. Man könnte sein Imperium auch „Hühnermafia“ nennen – wenn man bedenkt, mit welchen Methoden er (genau wie die anderen Oligarchen) sein Imperium aufgebaut hat, sein Vermögen schützt und seine Kritiker und die Bauern, die er um ihr Land gebracht hat, zum Schweigen bringt. Als zehntreichster Mann des Landes hat sich Kossjuk in einem Vorort von Kiew eine Residenz bauen lassen, die dem Schloss von Versailles ähnelt… inklusive der dort gefeierten pompösen Feste.
Die internationale Finanzkrise von 2007/2008 war ein Wendepunkt. Diese Krise setzte eine große Masse an Kapital frei, das auf der Suche nach neuen profitablen Geldanlagen war. Unter anderem mit diesem Kapital auf landwirtschaftliche Produkte spekuliert, was deren Preise in die Höhe trieb und zu noch mehr Hungersnöten in der Welt führte.
In dieser Zeit wurde viel Kapital in die ukrainische Landwirtschaft investiert. Oligarchen aus der Industrie wechselten in die Landwirtschaft. Bauernhöfe von 10.000 oder 20.000 Hektar wuchsen auf mehrere hunderttausend Hektar an. Der ukrainische Staat unterstützte die Bildung dieser gigantischen Landwirtschaftsbetriebe auf vielfältige Weise: Die größten Betriebe erhielten günstige Kredite und Zugang zu Devisen – während den kleineren Bauern, die ihre Höfe modernisieren wollten, die Kredite verweigert wurden. Auf die kleineren Landbesitzer wurde Druck ausgeübt, ihr Land an die Agrarholdings zu verpachten. Über Tricks wurde zugelassen, dass die Holdings sich staatliches Land aneignen. Sie erhielten Genehmigungen für den Bau riesiger Viehzuchtbetriebe oder Schlachthöfe, trotz des Widerstands der Anwohner. Staatliche Agrar- und Lebensmittelunternehmen wurden privatisiert und und und…
Der Zustrom westlichen Kapitals in die ukrainische Landwirtschaft beschleunigte sich, als der pro-westliche Oligarch Petro Poroschenko (genannt „der Schokoladenkönig“) 2014 zum Präsidenten gewählt wurde. Banken und Investmentfonds aus Europa, den USA oder den Ländern am Persischen Golf wurden zu Gläubigern und sogar zu Aktionären der ukrainischen Oligarchen.
Die Investmentfonds von Goldman Sachs, BNP, Norges Bank oder auch der amerikanische Kopernik-Fonds besitzen mittlerweile Aktien der ukrainischen Agrarholdings. Die mit 290.000 Hektar Land fünftgrößte Holding der Ukraine, NCH Capital, ist ein Unternehmen mit mehrheitlich amerikanischem Kapital. Nebenbei: NCH bewirtschaftete bis 2022 auch mehrere hunderttausend Hektar Agrarland in Russland. (…)
Hauptsächlich jedoch ist das westliche Kapital in Form von Krediten in die ukrainische Landwirtschaft geflossen. Die westlichen Finanzhaie haben hohe Kredite an die Agrarholdings vergeben, die von der Weltbank und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) unterstützt wurden. So vergab die EBWE ab 2010 Kredite in zweistelliger Millionenhöhe an den „Hühnerkönig“ MHP, damit dieser Anlagen bauen konnte, die bis zu 1.000 Tonnen Fleisch pro Tag zubereiten können. Zwischen 2008 und 2023 vergaben die EBWE und die Weltbank Kredite in Höhe von 1,7 Milliarden US-Dollar an die sechs größten ukrainischen Holdinggesellschaften.
Für 2020 wurden die Schulden von UkrLandFarming auf 1,65 Milliarden US-Dollar geschätzt: Den Großteil dieser Schulden haben sie bei ausländischen Gläubigern, unter ihnen die US-Import-Export-Agentur Gramercy Funds Management und die Deutsche Bank. Zu Kernels Gläubigern gehörten auch die niederländische ING-Bank, die französische Bank Natixis und die Baden-Württembergische Landesbank. Alle drei sind Banken aus Ländern, die viele Agar-Güter exportieren.
Durch diese massive Verschuldung der ukrainischen Agrarholdings bei den westlichen Gläubigerbanken haben letztere die Kontrolle über die ukrainischen Unternehmen und ihre Vermögenswerte.
Die Investitionen der ukrainischen Oligarchen in die Landwirtschaft sind ein wichtiger – wenn nicht gar entscheidender – Schritt auf dem Weg ihrer Integration in die kapitalistische Weltwirtschaft. Die Oligarchen plündern nicht mehr nur die ukrainischen Ressourcen, um die so ergaunerten Vermögen in Steueroasen anzulegen oder Fußballvereine oder Immobilienfirmen in London oder anderswo zu kaufen. Sie werden nun zu Geschäftspartnern der westlichen Kapitalisten.
Von Kolchosen zu Agrarholdings: die Eigentumsfrage
Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde die Ukraine 1991 – auf Wunsch der herrschenden Bürokraten – unabhängig. Doch es sollten noch dreißig Jahre vergehen, bis Kiew 2021 ein Bodengesetz verabschiedete, dass nicht nur die Verpachtung, sondern auch den Verkauf von Agrarland ermöglichte. In diesen dreißig Jahren haben die ukrainischen Privilegierten und die westlichen Kapitalisten, die auf die Reichtümer der Ukraine schielten, sehr mühsam und lange ohne vollständigen Erfolg versucht, das wirtschaftliche, rechtliche und soziale Erbe der Sowjetzeit zu liquidieren, die ukrainische und die russische Wirtschaft zu entflechten und die ukrainische Wirtschaft in die kapitalistische Weltwirtschaft zu integrieren.
Bis 1991 wurde der Großteil des ukrainischen Agarlandes von 20.000 Kolchosen (Landwirtschafts-betriebe, die den dort arbeitenden Bauern gemeinsam gehörten) und 2.500 Sowchosen (staatliche Landwirtschaftsbetriebe) bewirtschaftet. Auch wenn ein beträchtlicher Teil der ukrainischen Nahrungsmittelproduktion von den Parzellen stammte, die die Bewohner der Kolchose individuell bewirtschafteten, war die gesamte sowjetische Wirtschaft auf kollektiver Grundlage organisiert, von der Arbeit auf den Feldern und in den Ställen bis hin zur Lagerung und zum Transport der Produkte zu den Verbrauchern. Das gesamte Dorfleben – Wohnen, Schule, Gesundheitsversorgung, Geschäfte, Stromversorgung bis hin zum Bestattungswesen – war um die Kolchosen herum organisiert, die ihrerseits stark mit den staatlichen Industriekonzernen verbunden waren. Darüber hinaus waren alle Wirtschaftsbeziehungen, Infrastrukturen, Versorgungs- und Verteilernetze der Ukraine mit denen Russlands und Weißrusslands verflochten und weitgehend von Westeuropa abgeschnitten.
Wie in Russland scheiterten auch in der Ukraine die ersten Versuche, das Land zu privatisieren. Formal gab es seit der Oktoberrevolution 1917 kein Privateigentum an Grund und Boden mehr. Millionen Bauern hatten in der Revolution die Agrarfrage aufgeworfen. Die Bolschewiki hatten verfügt: „Das Recht auf Privateigentum an Grund und Boden wird für immer aufgehoben. Der gesamte Boden wird entschädigungslos enteignet, zum Gemeineigentum des Volkes erklärt und zur Nutzung all denen übergeben, die ihn bearbeiten.“ Nach den schrecklichen Ereignissen des Bürgerkrieges, der Neuen Ökonomischen Politik, der stalinistischen Zwangskollektivierung, des Zweiten Weltkriegs und dann der Chruschtschow-Reformen – alles Ereignisse, von denen die Ukraine besonders betroffen war – wurde das Land aufgeteilt.
Ein Teil ging als individuelle Parzellen an die Kolchosbewohner und später an Stadtbewohner für ihre Datscha auf dem Land – das Land wurde ihnen allerdings weiterhin nur zur Nutzung überlassen, sie wurden nicht ihr Eigentümer. Der Rest des Landes wurde zwischen den Kolchosen, den Sowchosen, den Regionen und dem Staat aufgeteilt. Es gab kein Kataster, das den Grundbesitz erfasst und einzelnen Besitzern zugewiesen hätte. Esamte Ein solches Kataster existiert auch 30 Jahre später noch immer nicht, zur Verzweiflung der EBWE, die 2013 rund 89 Millionen US-Dollar zahlte, „um die Vergabe von Eigentumsrechten für die landwirtschaftlichen Flächen zu organisieren und ein Kataster zu entwickeln“.
Die Bürokraten an der Spitze der Ukraine versuchten ab 1992, die kollektiven Bauernhöfe aufzulösen, das Land zu privatisieren und im Eiltempo private Unternehmen aus dem Boden zu stampfen. Die Regierung verteilte Eigentumstitel an die ehemaligen Beschäftigten der Kolchosen. Abhängig davon, wie groß die Kolchose gewesen war und wie viele Bauern dort gearbeitet hatten, erhielt jede Familie die Eigentumsrechte für ein Stück Land. Die Regierung übereignete außerdem die individuellen Parzellen an die Bauern, die sie bewirtschafteten. Und sie übertrug 15% des Kolchoslandes an die Gemeinderäte, um „Reserveland“ zu bilden. In der neuen Verfassung aus dem Jahr 1996 hieß es sowohl: „Das Land ist Eigentum des ukrainischen Volkes“ als auch: „Das Recht auf Grundbesitz wird garantiert. Dieses Eigentumsrecht kann von den Bürgern, juristischen Personen und dem Staat erworben und verwirklicht werden.“
Diese juristischen Änderungen haben jedoch nicht dazu geführt, dass aus dem Nichts Tausende private Landwirtschaftsbetriebe entstanden wären. Die überwiegende Mehrheit der sieben Millionen Besitzer von Eigentumszertifikaten für nicht im Kataster eingetragene Flächen waren aufgrund fehlender Ausrüstung und Finanzierung nicht in der Lage, diese zu bewirtschaften. Daher verpachteten sie ihre Anteile meist. Ab und zu verkauften sie sie auch, aus freien Stücken oder unter Druck, an ehemalige Kader der Kolchose oder an örtliche oder weiter entfernte Geschäftemacher. Viele dieser Millionen neuer, sehr kleiner „Eigentümer“ wurden daher zu Lohnarbeitern auf dem, was vermeintlich „ihr“ Land war.
In den 1990er Jahren gierte eine Vielzahl von Bürokraten und dem Regime nahestehenden Neureichen nach sofortigem Profit. Sie schlachteten den alten Produktionsapparat aus und plünderten die Rohstoffe, was zu einem allgemeinen Zusammenbruch der Wirtschaft führte. Die Lage für die Bevölkerung wurde katastrophal. Bevölkerungsgröße und Lebenserwartung gingen zurück. Auf dem Land wurden die meisten der unrentablen Kolchosen und Sowchosen dem Verfall preisgegeben. Das Vieh wurde geschlachtet, die landwirtschaftlichen Geräte rosteten vor sich hin.
Der größte Teil der in der Ukraine konsumierten Lebensmittel stammte wie früher und auch heute noch von intensiv bewirtschafteten Familienparzellen und kleinen unabhängigen Bauernhöfen. Oligarchen hatten sich das beste Land, die Häfen, die Transportwege und Lagerstätten unter den Nagel gerissen. Andere haben reihenweise verstreute Besitztitel an den landwirtschaftlichen Flächen aufgekauft, oft jedoch, ohne diese irgendwie zu nutzen. Sie häuften sie erst einmal an und warteten darauf, dass sich das allgemeine Geschäftsumfeld verbesserte.
Angesichts der katastrophalen Folgen dieser Plünderung und des Widerstands von Kleinbauern und ehemaligen Kolchosebauern verabschiedete das ukrainische Parlament 2001 ein Moratorium, das den Verkauf von Agrarland verbot. Dieses Moratorium wurde erst 2021 von Selenskyj aufgehoben. Jahrelang hatten der IWF und die EBWE nachdrücklich Druck in diese Richtung ausgeübt. So hatten sie beispielsweise seit 2014 alle Kredite an die Ukraine von der Verpflichtung abhängig machten, „das Moratorium aufzuheben“ und „einen transparenten Markt für Agrarland zu schaffen“. Doch jedes Mal, wenn das Parlament sich anschickte, das Moratorium aufzuheben, wurde es durch Demonstrationen der Landwirte daran gehindert. Denn zwei Drittel der Ukrainer lehnten es ab, das Moratorium aufzuheben. Sie waren sich sehr wohl bewusst, dass in diesem Fall die Mächtigen – mithilfe der allseits verbreiteten Korruption – in Windeseile einen Großteil des Landes an sich reißen würden.
Selenskyj setzte sich während des Wahlkampfs, der ihn zum Präsidenten machen sollte, dafür ein, den Verkauf von Land auch an Ausländer zu erlauben. Ein Wahlversprechen an die Wohlhabenden, das er hielt… Das 2021 verabschiedete Gesetz beschränkte den Verkauf von Land unter 100 Hektar zunächst auf ukrainische Käufer. Seit dem 1. Januar 2024 jedoch kann Land für eine Fläche von bis zu 10.000 Hektar von einer natürlichen oder juristischen Person verkauft oder erworben werden. Der Druck der internationalen Banken hatte schließlich zum Erfolg geführt: Das Gesetz öffnete den Unternehmen mit ausländischem Kapital die Tür. Diese können nun das volle Eigentumsrecht an landwirtschaftlichen Flächen erwerben.
Natürlich hatten die ausländischen Unternehmer nicht gewartet, bis sie rechtmäßige Eigentümer des Landes werden durften. Sie hatten bereits vorher angefangen, über das Land zu verfügen. Die ausländischen Aktionäre der mächtigen Agrarholdings verfügten bereits vorher über eine breite Palette an rechtlichen Instrumenten, um die von ihnen bewirtschafteten Flächen zu vergrößern. So pachteten sie die Nutzungsrechte, die Kleinbesitzer an Agrarland besaßen. Oder sie beteiligten sich an dem Kapital ukrainischer Unternehmen, die über solches Land verfügten (…).
Doch die Kapitalisten wollten ihren Besitz auch rechtlich als ihr Eigentum sichern – so, wie die Kapitalisten schon immer ihren Besitz juristisch als ihr rechtmäßiges Eigentum anerkannt haben wollten, selbst wenn sie diesen durch räuberische Enteignung, Schmuggel oder Sklaverei erworben hatten. Wie die EBWE bereits 2014 formulierte: „Die Ukraine wird ihr landwirtschaftliches und industrielles Potenzial nicht freisetzen können, ohne eine Reihe von Herausforderungen zu bewältigen, darunter […] die derzeitige Unsicherheit im Zusammenhang mit Landbesitz und Nutzungsrechten“. Die Landreform und der Zugang zu vollen Eigentumsrechten, die vom ukrainischen Staat garantiert werden, eröffnen den westlichen Kapitalisten neue Möglichkeiten.
Der Krieg und die Agrarholdings
Natürlich verzögert und erschwert der Krieg, der nun in sein drittes Jahr geht und bereits Hunderttausende ukrainische und russische Opfer gefordert hat, die effektive Umsetzung des Gesetzes über Landbesitz. Im Osten des Landes wurde ein Zehntel der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Minenfelder verwandelt, die von Schützengräben durchzogen sind. Dörfer und Bauernhöfe wurden zerstört. Die Infrastruktur – Silos, Straßen, Eisenbahnlinien, Häfen – wurde bombardiert, und zwar weit über die Frontlinie hinaus: Odessa, dem größten Hafen der Ukraine, insbesondere für Getreide, ist ein Beispiel dafür.
Die Versorgungswege für Düngemittel und Saatgut wurden unterbrochen. Fabriken, die die landwirtschaftlichen Produkte weiterverarbeiten, wurden zerstört. Einige Holdings haben einen Großteil ihres Landes verloren. Die UkrLandFarming-Gruppe des Oligarchen Oleh Bakhmatyuk meldet, dass sie 40 % ihres Landes in der Region Cherson und Mariupol verloren hat. Der von dem Franzosen Beigbeder gegründete Konzern AgroGeneration hat mit ähnlichen Problemen zu kämpfen.
In den von der russischen Armee besetzten Gebieten haben sich die russischen Konkurrenten der ukrainischen Oligarchen deren Land angeeignet. So hat sich die russische Holding Agrocomplex, die dem ehemaligen Landwirtschaftsminister Alexander Tkatchev gehört und 800.000 Hektar Land in Russland kontrolliert, das Land des ukrainischen HarvEast in der Region Donezk unter den Nagel gerissen. Der Krieg beschleunigt die Trennung zwischen russischen und ukrainischen Oligarchen, die ähnliche mafiöse Methoden anwenden und er erleichtert es ihnen auch, miteinander abzurechnen. So wurde Oleksij Vadaturskyj, Chef des ukrainischen Getreidekonzerns Nibulon, im August 2022 absichtlich von russischen Bomben erschossen. Er war der Besitzer der zehntgrößten ukrainischen Agrarholding gewesen, die die Hafeninfrastruktur von Mykolajiw in der Hand hat – ein Hafen, über die vor dem Krieg ein Drittel der Getreideexporte abgewickelt wurde.
Einer der Gründe für den Krieg war eben der immer schärfer werdende Konkurrenzkampf zwischen den russischen Agrar-Oligarchen, die große Getreideexporteure sind und eng mit Putins Staatsapparat verbunden sind, und ihrem ukrainischen Pendant: ukrainische Agar-Oligarchen, die zunehmend mit westlichen Kapitalisten verbunden sind. Das Freihandelsabkommen zwischen der Ukraine und der Europäischen Union am 1. Januar 2016 und der rasche und starke Machtgewinn der ukrainischen Agroholdings an den internationalen Getreide- oder Ölsaatenmärkten kollidierten mit den Interessen ihrer russischen Konkurrenten. (…).
Der Krieg hat außerdem den Einfluss der westlichen Finanzkapitalisten auf die ukrainische Wirtschaft massiv verstärkt. Die Kriegsausgaben haben zu einer Explosion der ukrainischen Staatsschulden geführt. Denn zig Milliarden Dollar oder Euro, die die Ukraine von den USA und den europäischen Ländern erhalten hat – unter dem Vorwand, der Ukraine beim Widerstand gegen die russische Invasion zu helfen – waren in Wahrheit Kredite, die die ukrainische Bevölkerung über Jahrzehnte hinweg zu einem hohen Preis zurückzahlen muss.
Diese Staatsschulden beliefen sich Anfang 2023 auf 135 Milliarden US-Dollar (75 % des BIP) und steigen weiter an. Die privaten Schulden, die Schulden der ukrainischen Unternehmen, darunter die Agrarholdings, wurden auf 50 Milliarden US-Dollar geschätzt. All diese Schulden verleihen den westlichen Gläubigern eine fast absolute Macht, sich die für sie interessanten Unternehmen und Bergwerke des Landes einzuverleiben… und insbesondere die reichen Agrarflächen.
Internationale Konferenzen über die Zukunft der Ukraine, europäische Gipfeltreffen oder Resolutionen, die unter der Schirmherrschaft des IWF und der Weltbank veröffentlicht werden, wiederholen alle das Gleiche: Nicht zum Kerngeschäft gehörende ukrainische Unternehmen müssen privatisiert werden; die sozialen Dienste müssen reformiert werden; die Wirtschaft muss dereguliert werden. Im Bereich der Landwirtschaft stellt die Weltbank fest: „Der Wiederaufbau der Ukraine wird eine verstärkte Liberalisierung des Marktes für Agrarland und die Ausweitung des Programms für Agrareinnahmen erfordern, um private Investoren anzulocken“.
Sterben für das Agrarbusiness
Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine, der vor zehn Jahren nach dem Sieg der pro-westlichen Kräfte in Kiew und der anschließenden Abspaltung des Donbass begann und bis zum brutalen Einmarsch von Putins Armeen in die Ukraine vor zwei Jahren auf niedrigem Niveau geführt wurde, ist auch ein Krieg um die Kontrolle von Ressourcen und Märkten.
Der Krieg wurde von Putin begonnen als Reaktion darauf, dass sich die Ukraine zunehmend hinter den USA und deren europäischen Verbündeten einordnete und die Kapitalisten dieser Staaten zunehmend die ukrainische Wirtschaft unter ihre Kontrolle bekommen. Doch statt diesen Prozess aufzuhalten, hat der ins Stocken geratene Krieg ihn vielmehr beschleunigt. Auf der einen Seite brechen Beziehungen zu Russland ab. Auf der anderen Seite bereiten sich Selenskyjs westliche Gläubiger und Waffenlieferanten darauf vor, sich das Land unter den Nagel zu reißen und dabei vielleicht die ukrainischen Oligarchen dauerhaft in die internationale Bourgeoisie zu integrieren.
Den Preis für diesen Krieg bezahlt zum großen Teil die einfache Bevölkerung der Ukraine: die vom Militär eingezogenen Männer, angefangen bei den Zehntausenden Kleinbauern sowie Landarbeitern der großen landwirtschaftlichen Betriebe, die Einwohner in den umkämpften Gebieten und den belagerten und zerstörten Städten…
In vielen Dörfern gibt es kaum noch Männer im arbeitsfähigen Alter, da sie alle im Krieg sind. Aufgrund fehlender Arbeitskräfte schlachten viele Landwirte ihren Viehbestand, was den Milchpreis in die Höhe treibt. Fast jeder zweite Landbewohner lebt heute unterhalb der Armutsgrenze, einige leiden sogar an Unterernährung. Die Kleinbauern, die das Land ernähren, erhalten keine Unterstützung vom Staat. Dieser unterstützt lieber die riesigen Agrarholdings.
Die Arbeiterklasse zahlt einen hohen Preis. Die Arbeiterinnen und Arbeiter leiden unter den Entbehrungen. Sie müssen morgen die Rückzahlungen der schwindelerregenden Schuldenlast tragen. All diese Opfer werden gebracht, um das Bündnis zwischen dem westlichen Finanzkapital und den ukrainischen Oligarchen zu erhalten und zu festigen. Man glaubt, für das Vaterland zu sterben, aber man stirbt für die Aktionäre der Agrarholdings.