Seit der Corona-Krise Ende 2019 sieht sich die chinesische Wirtschaft mit einer Reihe von Schwierigkeiten konfrontiert, aus denen sie offenbar nicht herauskommt. Diese Krise ist jedoch weder spezifisch chinesisch noch rein konjunkturell bedingt. Innerhalb von 30 Jahren hat sich China unter der Führung seines Staates tief in die kapitalistische Weltwirtschaft integriert. In den 1990er und 2000er Jahren fanden westliche Unternehmen hier die Arbeitskräfte, um ihre Profitraten wieder zu steigern. Sie machten China zur Werkbank der Welt. Nach der Krise von 2008 fachte die boomende chinesische Immobilienspekulation das Interesse des Westens an diesem riesigen Markt erneut an. Heute jedoch steht der chinesische Kapitalismus gleich zwei Problemen gegenüber: Zum einen schrumpft die kapitalistische Weltwirtschaft, zum anderen legen die imperialistischen Mächte den chinesischen Unternehmen Grenzen auf, was ihm vielfältige Schwierigkeiten bereitet. Sollten diese Schwierigkeiten anhalten, wird dies nicht ohne Folgen für den Lauf der Welt bleiben.
Wir veröffentlichen hierzu die gekürzte Übersetzung eines Artikels aus der Zeitschrift Lutte de Classe (Nr.237, Februar 2024), der zweimonatlichen Zeitschrift unserer französischen Genossen von Lutte Ouvrière.
In seinen Veröffentlichungen vom Oktober 2023 stellte der IWF fest, dass die Weltwirtschaft auf der Kippe steht. Er analysierte die Folgen der Pandemie, des Ukraine-Krieges und der zunehmenden geoökonomischen Fragmentierung und prognostizierte, dass sich das globale Wachstum weiter verlangsamen würde. Seine Schlussfolgerungen waren eindeutig: „Die mittelfristige Prognose für das globale Wachstum ist mit 3,1 Prozent die niedrigste seit mehreren Jahrzehnten. Und die Aussichten, dass Länder zum Lebensstandard anderer, weiter entwickelter Länder aufschließen, sind gering.“ Während Hunderte Millionen Menschen auf der Welt in Armut und Unsicherheit stürzen oder dort verharren und andere unter Bombenhagel sterben, trauen sich die führenden Köpfe des Kapitalismus nicht einmal mehr, ihnen eine bessere Zukunft auch nur zu versprechen. Eine solche Feststellung ist eine Bankrotterklärung – des Bankrotts einer Wirtschaft, die sich auf den Markt und die Anarchie des Wettbewerbs stützt.
Anfang der 2000er Jahre kurbelte das Wachstum der chinesischen Wirtschaft die gesamte Weltwirtschaft an – ein Wachstum, das sowohl durch die Politik des chinesischen Staates wie auch durch westliche Investitionen zustande kam. Zwischen den frühen 2000er und den frühen 2010er Jahren vermeldete China Wachstumsraten von über 10 %, die 2007 (vor der großen Krise 2008) sogar auf 14 % anstiegen. Einige sahen darin die Wunderwirkung des Kapitalismus, andere den Nachholeffekt eines Landes, das aus der Armut aufsteigt.
In Wirklichkeit hatten der chinesische Staat und die westlichen Kapitalisten lediglich eine gemeinsame Basis gefunden, um die chinesische Arbeiterklasse gemeinschaftlich auszubeuten. Dies brachte einerseits der westlichen Bourgeoisie einträgliche Profite ein und führte andererseits unter der Ägide des chinesischen Staates dazu, dass eine beachtliche chinesische Bourgeoisie und Kleinbourgeoisie entstand bzw. wieder entstand. Rund um die Freihandels – und Sonderwirtschaftszonen, die die Ausbeutung der chinesischen Arbeiterklasse organisieren, haben sich Städte entwickelt.
Aber China ist weit davon entfernt, kein armes Land mehr zu sein. Nach Angaben der Weltbank leben immer noch 19% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Das heißt, dass 273 Millionen Menschen ein Einkommen von weniger als 6,85 US-Dollar pro Tag haben. Die modernsten und reichsten städtischen Gebiete um Peking, Shanghai, Shenzhen und die Provinzhauptstädte liegen immer noch neben rückständigen ländlichen Gebieten. Hunderte Millionen Wanderarbeiter sind wie Bürger zweiter Klasse aus diesem ländliche Hinterland gekommen, um unter härtesten Bedingungen den Gegenwert von ein paar hundert Euro zu verdienen, bevor sie zum Teil wieder dorthin zurückgeschickt wurden, als sich die Interessen der chinesischen und ausländischen Kapitalisten änderten.
Die Immobilienkrise
In den Jahren nach der Weltwirtschaftskrise von 2008 kam es in China zu einer hemmungslosen Immobilienspekulation. Immer mehr Wohnungen wurden gebaut, was der chinesischen Wirtschaft einen neuen Absatzmarkt schuf. Der chinesische Staat, die wieder entstandene chinesische Bourgeoisie und die örtlichen Beamten hatten auf diese Weise eine Möglichkeit gefunden, die Industrieproduktion wieder anzukurbeln, die aufgrund der anhaltenden Wirtschaftsflaute in den westlichen Ländern ins Stocken geraten war.
Um ihre Bauprojekte zu finanzieren, verschuldeten sich die Bauunternehmer und die Provinzregierungen grenzenlos. Sie verwendeten das Geld aus den Krediten, die sie für neue Projekte erhalten hatten, um die Arbeiten an alten Projekten fortzusetzen. Dieses System konnte nur solange funktionieren, wie der Markt expandierte und die Preise stiegen. Es führte zu einer Immobilienblase, aus der nun seit über zwei Jahren die Luft entweicht.
Die Pandemie war hierfür der Auslöser. Der mit ihr verbundene Wirtschaftsumschwung führte zu einem Rückgang der Nachfrage nach Immobilien. Infolgedessen waren viele Bauherren nicht mehr in der Lage, ihre Gläubiger zu bezahlen und ihre Bauten fertigzustellen. Die Spekulationsmaschine war ins Stocken geraten, und entgegen den Hoffnungen der Regierung kam sie nicht wieder in Gang.
Im Jahr 2019 hatte die für Bauprojekte freigegebene Fläche ihren Höchststand erreicht. Im Jahr 2021 begann sie zu sinken, bevor sie 2022 um 40 Prozent einbrach. Im November 2023 war sie im Vergleich zu 2022 um weitere 15 % zurückgegangen und machte nur noch 40% der Fläche von Ende 2019 aus. Die Immobilienverkäufe folgten derselben Entwicklung.
Die Immobilienpreise sind bislang jedoch nicht eingebrochen. Bei Neubauten fielen sie 2023 nur um 3%. Nach Angaben der Bank Nomura haben die chinesischen Bauunternehmer bislang nur etwa 60% der zwischen 2013 und 2020 vorab verkauften Häuser fertiggestellt, da viele Bauarbeiten zeitweise eingestellt wurden. Durch den drastischen Rückgang neuer Bauvorhaben und die zeitweilige Stilllegung bestehender Baustellen haben die Bauträger die Fertigstellung neuer Häuser drastisch reduziert. Sie versuchen auf diese Weise, ihre vorhandenen Bestände zu relativ hohen Preisen zu verkaufen.
Viele Wanderarbeiter im Baugewerbe sind auf diese Weise arbeitslos geworden und sind dazu verurteilt, in ihre Heimatstädte oder -dörfer zurückzukehren. Währenddessen tut der chinesische Zentralstaat alles, um die Bauträger zu unterstützen: Er gewährt Kaufprämien, die eigentlich nur an Erstkäufer vergeben werden, nun auch Käufern, die bereits ein oder mehrere Häuser besitzen. Er sorgt für sehr niedrige Zinssätze und rettet Provinzregierungen, die ihre Immobilienschulden nicht zurückzahlen können.
Die Immobilienkrise dauert an. Und sie ist noch lange nicht vorbei. Sie begann, als Chinas größter Immobilienkonzern Evergrande vor mehr als zwei Jahren nicht in der Lage war, seine Kredite zurückzuzahlen. Der Konzern befindet sich noch immer zwischen Liquidation und Umstrukturierung und ist nicht in der Lage, die Raten für seine gigantischen Schulden in Höhe von 328 Milliarden US-Dollar zu begleichen. Das Unternehmen lässt seine Arbeiter und Subunternehmer im Regen stehen, ebenso wie seine Kunden, die oft ihre gesamten Ersparnisse in den Kauf einer Wohnung gesteckt haben, die ihre Altersvorsorge sein sollte. Dies führt zu Empörung und Demonstrationen.
Evergrande ist kein Einzelfall. Tatsächlich haben die meisten Immobilienkonzerne mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Nur ein Beispiel: Country Garden, der nach dem Sturz von Evergrande zum größten Immobilienkonzern wurde, konnte im Sommer und Oktober seine Schulden ebenfalls nicht mehr bedienen. Seine Umsätze fielen im Oktober und November auf ein Sechstel des Durchschnittswerts für die Jahre 2021 und 2022, da die Kunden wenig Vertrauen in die Fähigkeit des Unternehmens hatten, seine Bauprojekte fertigzustellen.
Evergrande ist jedoch der bekannteste Fall, da seine Probleme international für Schlagzeilen gesorgt haben: seine Zahlungsausfälle, die Verhaftung seiner Führungskräfte und der Hausarrest für seinen Geschäftsführer, eines ehemaligen Milliardärs und ehemaligen Günstlings der Führung in Peking… Im Gegensatz zu den imperialistischen Ländern beherrscht in China nämlich der Staat die Bourgeoisie und nicht umgekehrt. Eine Reihe großer Unternehmer, die ihr Vermögen dank der schützenden Hand des Staates gemacht haben und deren Unternehmen in die Krise stürzten, sind buchstäblich von der Bildfläche verschwunden oder verhaftet worden.
Gleichzeitig greift der chinesische Staat ein und stützt die wankenden Unternehmen über seine zahlreichen staatlichen Firme und Banken, die sogenannten State Owned Entreprises (SOE). Dabei geht es vor allem darum, die Interessen vor allem der chinesischen, aber auch der westlichen Kapitalisten zu schützen, die an den Baukonzernen beteiligt sind oder ihnen Kredite gewährt haben. In deren Interesse wird versucht, die Anzahl der Unternehmenspleiten so gering wie möglich zu halten. So erhielt Gemdale Corp, der zehntgrößte chinesische Bauträger, der in den nächsten vier Monaten 1,4 Mrd. USD zurückzahlen muss, staatliche Unterstützung durch mehrere staatliche Banken, die sich bereit erklärten, ihm 1 Mrd. USD zu leihen, wenn Gemdale ihnen ein Einkaufszentrum und einen Bürokomplex, die zu den Aushängeschildern Pekings zählen, als Sicherheit bietet. Bei einem anderen Unternehmen, Vanke, sprang dessen Hauptaktionär, ein staatliches Unternehmen, ein und legte umgerechnet mehr als eine Milliarde Euro auf den Tisch, damit Vanke die Raten für seine Schulden zahlen konnte.
Die Krise griff jedoch auch auf die Finanzwelt über, insbesondere auf die sogenannte Schattenfinanz. Das sind private Fonds, die in der Wirtschaft tätig sind, ohne zu den traditionellen Banken zu gehören und deren Bedeutung durch die Immobilienspekulation der 2010er Jahre erheblich zugenommen hat.
Im Juli gab es Anzeichen für Schwierigkeiten bei der Zhongzhi Enterprise Group, einem der größten chinesischen Vermögensverwalter, als eine ihrer Tochtergesellschaften ihren Zahlungsverpflichtungen für Dutzende von Anlageprodukten nicht nachkam. Mitte September übernahmen zwei staatliche Unternehmen die Kontrolle über die Tochtergesellschaft. Doch Ende November erklärte sich Zhongzhi, die Muttergesellschaft, die Kundenvermögen im Wert von 128 Milliarden Euro verwaltet, aufgrund von 60 Milliarden Schulden für „ernsthaft zahlungsunfähig“. Am Freitag, den 5. Januar, erklärte sie, dass sie „offensichtlich“ nicht in der Lage sei, ihre Schulden zurückzuzahlen. Sie kündigte ihren reichen Kunden hohe Verluste an und verursachte, laut der Wirtschaftszeitung Les Echos „eine der größten Insolvenzen in der Geschichte“ Chinas.
Die Liquiditätskrise bei Zhongzhi bestand eigentlich schon seit mehreren Jahren, aber die Tochtergesellschaften konnten sie immer ausgleichen, indem sie die Vorschüsse der neuen Kunden nutzten, um die Zinsen für Investitionen und die Rückzahlungen, die sie den alten Kunden schuldeten, zu bezahlen. Mit der Verlangsamung der chinesischen Wirtschaft und dem Absturz des Immobilienmarktes wurden solche Finanzmanipulationen immer schwieriger und riskanter.
Westliche Kapitalisten zeigen sich besorgt über die Zukunft des chinesischen Immobilienmarktes. Der Immobiliensektor macht 25% bis 30% der chinesischen Wirtschaft aus. Der IWF zählt ihn zu den „Faktoren, die Einfluss auf das weltweite Wachstum haben“ und erklärt, dass die Krise des chinesischen Immobiliensektors „sich verschärfen und weltweite Auswirkungen haben könnte, insbesondere auf rohstoffexportierende Länder.“ Dem IWF zufolge bedroht die Immobilienkrise nicht so sehr direkt die Industriestaaten wie die USA oder Europa, sondern vielmehr die Rohstofflieferanten, die während der 2010er Jahre von der Spekulation mit chinesischen Immobilien profitiert haben. Dabei handelt es sich vor allem um afrikanische Länder, außerdem um Australien, die im letzten Jahrzehnt in großem Maße Kohlenwasserstoffe (Öl, Gas, Kohle), Eisen und andere Rohstoffe nach China exportiert haben. Ihr Auftragsvolumen ist in den letzten Jahren spürbar zurückgegangen.
Eine weitere Folge der Immobilienspekulation der 2010er Jahre ist, dass China kolossale Schulden angehäuft hat. Gemessen am jährlichen Produktionsvolumen des Landes ist die (öffentliche und private) Gesamtverschuldung etwa genauso hoch wie in den USA. Doch während die USA mit dem Dollar die Macht haben, nach Belieben die Notenpresse anzuwerfen und Geld zu drucken, hat China diese Möglichkeit nicht. Bei den Schulden der Privatunternehmen, die nicht zum Finanzsektor gehören, steht China sogar an der Spitze der internationalen Rangliste. 28% der Schulden aller privaten Unternehmen weltweit entfallen auf Chinas Unternehmen Es bleibt sehr schwierig, den internationalen Schaden abzuschätzen, den ein Zusammenbruch der chinesischen Immobilienkonzerne und der sie unterstützenden Finanzwelt verursachen würde.
Die chinesische Arbeiterklasse in der weltweiten Krise
Die chinesische Krise hat zwar nationale Ursachen. Sie wird jedoch verschärft durch den weltweiten Wirtschaftsabschwung seit dem Ausbruch der Pandemie, dem Ukraine-Krieg und dem Wirtschaftskrieg der USA gegen die Wirtschaftsmacht China, die sie als strategischen Konkurrenten betrachten.
Da China nach wie vor die wichtigste Werkbank der Welt ist, wirken sich diese weltwirtschaftlichen Entwicklungen direkt auf die chinesische Wirtschaft aus. Dies äußert sich unter anderem darin, dass seit einem Jahr sowohl die Exporte als auch die Importe in China rückläufig sind.
Seit 2017 nehmen außerdem die US-Sanktionen gegen China massiv zu. Diese Sanktionen umfassen: Zölle auf Tausende chinesische Produkte; das Verbot, bestimmte High-Tech-Technologien nach China zu exportieren; außerdem das Verbot, bestimmte Materialien, die mit US-Produkten konkurrieren (wie die 5G-Technologie) aus China zu importieren. Die geopolitischen Spannungen haben die US-Importeure auch dazu veranlasst, sich nach anderen Ländern umzusehen, die sie beliefern können – um ihre Versorgung sicherzustellen und nicht nur von China abhängig zu sein.
Das Ergebnis: Während seit dem Frühjahr 2022 aufgrund der weltweiten Krise und des Ukraine-Krieges die US-Importe aus der ganzen Welt insgesamt um 5% zurückgegangen sind, sanken die Importe aus China um 30%! Sie sind damit auf das Niveau von 2013, 2014 gefallen. Diese Zahlen bedeuten, dass die US-Importeure von Industrieerzeugnissen ihre Bezugsquellen breiter gefächert haben. So machten die Importe aus China Anfang 2022 noch 19% der US-Importe aus, im dritten Quartal 2023 nur noch 14% – ein Rückgang, von dem vor allem Mexiko und die EU-Länder profitierten.
Die USA ist allerdings noch immer Chinas größter Kunde. 17% der chinesischen Exporte gehen in die USA, gefolgt von Hongkong (8,5%), Japan (4,9%), Südkorea und Vietnam (jeweils zwischen 4% und 5%). Ein Teil der chinesischen Exporte betrifft jedoch Einzelteile, die in die Nachbarländer Chinas (Hongkong, Vietnam etc.) exportiert und dort zu den Endprodukten zusammengebaut werden, um anschließend in den USA und Europa verkauft zu werden. Auf diese Weise entgehen diese Produkte den Strafzöllen, die auf chinesische Produkte verhängt wurden.
Dennoch: Insgesamt verzeichnen die chinesischen Exporte nach einem Rekordhoch Ende 2021 den ersten Rückgang seit 2016: ein Verlust von rund 150 Milliarden US-Dollar, der auf die sinkenden Exporte in die USA und in die Staaten des Verbands Südostasiatischer Nationen (ASEAN) zurückzuführen ist. Lediglich die Exporte in das kriegsführende Russland verzeichnen einen Zuwachs.
Diese Entwicklungen führen zu einer rückläufigen Entwicklung der verarbeitenden Industrie und können nicht ohne Folgen für die chinesische Arbeiterklasse bleiben. Das China Labor Bulletin (CLB), das von der gleichnamigen Organisation von Hongkong aus online herausgegeben wird, berichtet über Konflikte zwischen chinesischen Arbeitern und ihren chinesischen oder ausländischen Bossen. CLB schätzt, dass sich die Zahl der Arbeiterproteste und Streiks seit Januar 2023 im Vergleich zu 2022 mindestens verdoppelt hat (einem Jahr, in dem diese Proteste aufgrund der langen Abriegelung in der Pandemie stark zurückgegangen waren).
Seit Anfang 2023 reagieren die Arbeiter, wenn auch immer noch aus der Defensive heraus, auf ausstehende Löhne, Entlassungen und Fabrikschließungen, die die Folge des Rückgangs der internationalen Aufträge und der angeschlagenen Binnenwirtschaft sind. Diese Proteste konzentrieren sich auf die verarbeitende Industrie, insbesondere die Elektronik-, Textil-, Spielzeug- und Automobilbranche. Wegen des schwachen Marktes oder weil sie ihre Industrieanlagen umstrukturieren, verkürzen viele Unternehmen zunächst die Arbeitszeit und verweigern den Beschäftigten die Überstunden, ohne die sie keinen existenzsichernden Lohn verdienen können.
Oft ist das Ziel dieser Maßnahmen, die Arbeiter dazu zu bringen, von sich aus den Betrieb zu verlassen und damit auf die Abfindung zu verzichten, bevor die Fabrik dann geschlossen wird. Denn im Falle von Entlassungen oder Betriebsschließungen stehen ihnen gesetzlich Abfindungen zu. Viele Unternehmen haben heimlich geschlossen und die Maschinen am Wochenende oder während der Ferien weggebracht, um so fällige Löhne und/oder die gesetzlichen Abfindungen nicht zu zahlen.
Vielfach haben sich Arbeiterinnen und Arbeiter versucht, sich kollektiv dagegen zu wehren – während die örtlichen Behörden entweder einfach nichts gegen das gesetzeswidrige Verhalten der Firmen unternahmen oder offen als deren Komplizen auftraten und von den Arbeitenden noch verlangten, sich doch gefälligst mit dem zufrieden zu geben, was sie vom Unternehmen bekommen haben.
Im Baugewerbe werden viele Arbeiter seit Monaten nicht mehr bezahlt. CLB berichtet in den sozialen Netzwerken von dem Beispiel eines Wanderarbeiters in der Provinz Shaanxi: Er und seine Kollegen haben seit 2021 keinen Lohn erhalten, nachdem sie an einem Wasserkraftprojekt gearbeitet hatten, das von dem Bauträger Country Garden geleitet wurde.
Die Zahl der Vorfälle, bei denen die Polizei zu Streiks und Demonstrationen geschickt wurde, stieg proportional an: auf fast das Doppelte der im Vorjahr gezählten Vorfälle. Der Staat und die offizielle Gewerkschaft erfüllen gewissenhaft ihre Rolle als Interessenvertreter der chinesischen und ausländischen Kapitalisten – gegen die Arbeiter – um sie dazu zu bringen, sich in ihr Schicksal zu fügen.
Die Neuorganisation der Produktionsketten und ihre Folgen
Die derzeitige Immobilien- und Industriekrise in China ist Ausdruck einer kapitalistischen Überproduktion: Die Industrie kann sehr viel mehr produzieren als der Markt an Produkten aufnehmen kann. Die unmittelbaren Folgen dieser Krise werden die Überproduktion verschärfen. Der Konsum der Chinesen wird zwangsläufig sinken, da viele weniger Geld zur Verfügung haben: all die Arbeiter, die ihre Arbeit und damit ihr Einkommen verloren haben; ebenso all diejenigen, die weiterhin Miete zahlen müssen, weil die Arbeiten an dem Haus, das sie gekauft haben und für das sie Raten zahlen, eingestellt wurden. Der Rückgang des Binnenkonsums lässt sich übrigens daran ablesen, dass die Einnahmen aus der Verbrauchersteuer, den Unternehmenssteuern und den Einfuhrzöllen laut der Regierung seit Jahresbeginn um 7 bis 12 % zurückgegangen sind, und dass es einen erkennbaren Trend zur Deflation, zum Rückgang der Warenpreise gibt.
Die von der Regierung vorgelegten Zahlen machen außerdem deutlich, dass die privaten Investitionen weiterhin schrumpfen und die Gesamtinvestitionen nur dank der öffentlichen Investitionen weiterhin wachsen, wenn auch in einem verlangsamten Tempo. Die ausländischen Investitionen gehen seit 2022 zurück. „Die Zeit des chinesischen Eldorados scheint sehr weit weg zu sein“, schreibt Les Échos am 19. September.
Laut den neuesten Zahlen der chinesischen Außenhandelsbehörde SAFE (State Administration of Foreign Trade) war der Saldo der ausländischen Investitionen im dritten Quartal 2023 sogar negativ, das heißt ausländische Unternehmen haben mehr Geld aus China abgezogen als sie in China investiert haben. Der Saldo lag bei -12 Milliarden US-Dollar, dem niedrigsten Stand seit 1998. Und er war negativ, weil ausländische Unternehmen mit Sitz in China (insbesondere US-Unternehmen), ihre Gewinne abzogen statt sie im Land zu reinvestieren.
Dies ist ein Ausdruck dafür, dass die Kapitalisten den wachsenden geopolitischen Spannungen Rechnung tragen und dass US-amerikanische Unternehmen versuchen, ihre Lieferketten zù diversifizieren. In einem Kommentar eines China-Experten heißt es: „Ausländische Unternehmen, die in China tätig sind, weigern sich nicht nur, ihre Gewinne zu reinvestieren, sondern – zum allerersten Mal – verkaufen sie ihre Investitionen massiv an chinesische Unternehmen und repatriieren die Gelder. Diese Geldabflüsse erreichten in den ersten drei Quartalen des Jahres 2023 bereits über 100 Milliarden US-Dollar und werden voraussichtlich noch zunehmen.“
Auch die zunehmenden protektionistischen Maßnahmen in Europa werden die Krise in China verschärfen. Die Europäische Kommission hat eine Antisubventionsuntersuchung gegen chinesische Autohersteller eingeleitet, deren Preise für Elektrofahrzeuge um 25% unter denen ihrer europäischen Konkurrenten liegen. Damit will sie vor allem eine Erhöhung der Einfuhrzölle auf chinesische Elektrofahrzeuge rechtfertigen, die in Europa nur 10% betragen, während sie in den USA bei 27,5% liegen. [Seit Erscheinen des Artikels hat die US-Regierung die Importzölle auf chinesische E-Autos sogar auf 100% erhöht, und die EU droht mit einer Erhöhung ihrer Importzölle um 17,4 bis 37,6% ab November 2024.]
Nun ist die Automobilbranche der wichtigste Wachstumssektor in China. Aber es ist auch eine Branche mit viel Wettbewerb – mit mehreren Konzernen, die sich im Handelskrieg befinden. Die protektionistischen Maßnahmen dürften den chinesischen Hersteller den Export ihrer Fahrzeuge erschweren und sie dazu veranlassen, Ausweichmöglichkeiten zu finden. Um die Zölle zu umgehen, erwägen mehrere chinesische Hersteller anscheinend, Produktionsstätten für Batterien, Motoren und sogar für die Montage von Fahrzeugen in Mexiko oder Europa zu eröffnen. Dies würde die Spannungen zwischen China und den westlichen Konzernen und ihren Regierungen zweifellos verschärfen.
Die Automobilindustrie ist nicht der einzige Sektor, der von protektionistischen Maßnahmen betroffen ist. So scheint Europa diesbezüglich die USA bei den „kritischen und strategischen Technologien“ nachahmen zu wollen: bei künstlicher Intelligenz, Quantentechnologien, modernen Halbleitern und Biotechnologien.
Der chinesische Staat reagiert auf den westlichen Protektionismus mit eigenen protektionistischen Maßnahmen, befindet sich aber nicht in der gleichen Position. Zwar baut China 58% der Seltenen Erden ab, die weltweit für Batterien und Elektronik unerlässlich sind, und 89% der weltweit verbrauchten Seltenen Erden werden in China raffiniert.
In dieser wichtigen Branche hat der chinesische Staat gerade ein Exportverbot für Technologien zum Abbau von Seltenen Erden erlassen. Als Huawei ein neues High-End-Smartphone herausbrachte, wiesen chinesische Regierungsbehörden und -unternehmen ihre Mitarbeiter an, kein iPhone von Apple oder andere Geräte ausländischer Hersteller mehr für geschäftliche Zwecke zu verwenden. Apple erzielt 19 % seines weltweiten Umsatzes in China…
Aber trotz allem ist China in der Weltwirtschaft insgesamt in einer untergeordneten Position. Die USA kann seine Zulieferer wechseln, Europa kann regionale Akteure aufbauen. China jedoch kann nicht seine Kunden wechseln.
Es kann zwar seinen eigenen Kapitalisten helfen, ihre Produktionsketten umzustrukturieren und die Endmontage nach Vietnam oder Indien zu verlagern, um so die von den USA verhängten Strafzölle zu umgehen. Es kann auch versuchen, die Absatzmärkte für seine Konzerne zu erhalten, indem sie auf den Handelskrieg mit einem Preiskrieg antworten – sprich indem sie die Zölle nicht auf den Preis draufschlagen, sondern ihre Waren (z.B. ihre Autos) weiterhin günstig oder sogar noch günstiger auf dem Weltmarkt anbieten. Eine Taktik, die Les Échos vom 23. September wie folgt zusammenfasst: „Lokale Industrieunternehmen, die zu Hause in Schwierigkeiten sind, werden auf unseren Märkten aggressiver“. Doch die imperialistischen Länder können auf diese Taktik mit prohibitiven Zöllen antworten [also Zöllen, die so hoch sind, dass sie einen Verkauf schlicht unmöglich machen, wie die 100% Zölle auf chinesische E-Autos in den USA] – oder noch einfacher: Sie verbieten die chinesischen Produkte einfach, wie sie es bei Huaweis Hardware mit 5G-Technologie gemacht haben.
Dieser Handelskrieg schadet den Interessen einer Reihe westlicher Kapitalisten. Während die USA neue Handelsbeschränkungen für Halbleiter aus China und nach China vorbereiten, antwortete die US-Handelsministerin Gina Raimondo einigen Kritikern: „Ich weiß, dass es Besitzer von Halbleiter-Unternehmen gibt, die nicht sehr glücklich sind, weil ihnen Einnahmen entgehen. Aber so ist das Leben. Der Schutz unserer nationalen Sicherheit ist wichtiger als kurzfristige Einnahmen“.
Die chinesische Wirtschaft steht also unter dem Druck der imperialistischen Mächte. (…) Es ist sehr schwer vorherzusagen, wie der chinesische Staat auf lange Sicht auf diesen wachsenden Druck des Imperialismus reagieren wird. Die Tatsache, dass die Wirtschaft unter starkem Druck steht, wird den Klassenkampf der chinesischen Kapitalisten gegen ihre Arbeiter verschärfen; der Verlust von Absatzmärkten im Ausland kann ihre wirtschaftliche und politische Aggressivität erhöhen. Das benachbarte Vietnam kann zum Spielball dieser Rivalitäten zwischen den USA und China werden. Die USA bereiten sich jedenfalls auf alle Möglichkeiten vor. Nachdem Biden im Sommer erklärt hatte, dass die chinesische Wirtschaft eine „Zeitbombe“ sei – eine Bombe, an deren Herstellung die USA beteiligt waren –, fügte er hinzu: „Wenn schlechte Menschen Probleme haben, tun sie schlechte Dinge“ – womit er die militärische Aggressivität des US-Imperialismus gegenüber ihrem chinesischen Konkurrenten rechtfertigte und darauf, dass die USA sich auf einen Krieg gegen ihren Rivalen vorbereiten.